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Rede von Bundesminister Steinmeier anlässlich des VI. Deutsch-Italienischen Gesprächsforums in Mailand

27.10.2006 - Rede

-- Es gilt das gesprochene Wort! --

Sehr geehrter Herr Außenminister,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Neue Dynamik für Europa“ - so lautet das Motto des VI. Deutsch-italienischen Gesprächsforums. Wir wissen alle, wie relevant es ist.

Eine neue Dynamik scheint vonnöten, um die europäische Idee wieder mit Leben zu erfüllen. Um fortzuführen, was vor 50 Jahren in Rom seinen Anfang nahm und seither eine der größten Erfolgsgeschichten in der langen und wechselvollen Historie unseres Kontinents wurde.

In diesem Sinne verstehe ich das Motto unserer Tagung auch als Aufruf, gerichtet auch an uns, die wir heute Verantwortung tragen in der europäischen Politik und Gesellschaft: neue Wege zu suchen in einer Situation, die mir persönlich weniger krisenhaft, als vielmehr paradox erscheint.

Eine verkürzte Zustandsbeschreibung könnte lauten: Europa ist eine Erfolgsgeschichte und dennoch in der Krise.

50 Jahre EWG, EG und EU – das sind 50 Jahre, die den europäischen Kontinent in Frieden geeint und ihm neben Stabilität auch Wohlstand auf einem bisher nicht gekannten Niveau gebracht haben. 450 Millionen Menschen leben und wirtschaften in einem Binnenmarkt, der weltweit seinesgleichen sucht. Innerhalb des Schengen-Raums können wir alle ohne Grenzen reisen, innerhalb von „Euroland“ zahlen wir alle mit derselben Währung.

Wer hätte dies alles für möglich gehalten, als die Gründungsväter 1957 die Römischen Verträge unterzeichneten?

Und dennoch: Seit einigen Jahren müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Zustimmung der Menschen zur EU abnimmt. Statt „Europhorie“ finden wir „Euroskepsis“. Der mit so viel Hoffnung, wiederum in Rom, unterzeichnete Verfassungsvertrag wurde in zwei Mitgliedsstaaten per Referendum abgelehnt.

Um dieses Paradox aufzulösen, brauchen wir in der Tat so etwas wie eine neue Dynamik. Wir müssen die Menschen überzeugen, dass wir heute, im 21. Jahrhundert, die europäische Einigung genauso brauchen wie vor 50 Jahren, auch wenn ihre ursprüngliche Legitimation – Frieden in Europa – heute in den Hintergrund getreten ist.

Es geht darum, den Menschen durch konkrete Projekte deutlich zu machen, dass Europa nicht Teil, sondern eine geeignete Antwort für die Probleme ist, die sich uns im Zeitalter der Globalisierung stellen.

Ich bin überzeugt davon, dass dies möglich ist. Denn: ob es um Kampf gegen den Terrorismus geht; die Rolle der EU im Welthandel; wenn wir die Migrationsströme nach Europa beherrschen wollen; im Kampf gegen das internationale Verbrechen, für den Schutz unserer Umwelt; bei unserem Bestreben, Demokratie und Stabilität in unsere Nachbarländer zu exportieren; für eine sichere Energieversorgung; zur Beherrschung des Klimawandels – eines gilt in allen diesen Fragen: Nur gemeinsam sind wir Europäer in der Lage, unsere Interessen in der heutigen Welt wirksam zu vertreten!

Meine Damen und Herren,
Deutschland wird Anfang kommenden Jahres den Vorsitz in der Europäischen Union übernehmen. Lassen Sie mich aus der Fülle der Aufgaben einige herausgreifen, in denen wir versuchen möchten, dynamische Prozesse fortzuführen oder anzustoßen.

Eines sei gleich vorausgeschickt: Italien wird für uns dabei ein wichtiger Partner sein. Wie nahe unsere Positionen in den wesentlichen Fragen zusammenliegen, das hast Du, verehrter Herr Kollege, lieber Massimo, mit Deinen Reden vor zwei Tagen in Florenz und gerade eben noch einmal zum Ausdruck gebracht.

Wenn ich eingangs von Skepsis, ja von Ängsten der Menschen in Europa gesprochen habe – ein Teil liegt wohl in der Furcht begründet, dass Europa den Anschluss verlieren könnte im Wettbewerb mit der wachsenden Wirtschaftskraft und Dynamik der aufsteigenden Supermächte China und Indien, aber auch den USA, Japan und anderen.

In der Tat: Wir wissen alle, dass Europa bei den so genannten „Lissabon-Zielen“ hinter dem eigenen – zugegeben sehr ehrgeizigen – Fahrplan weit zurückhinkt. Andere Weltregionen machen uns vor, wie man Ausbildung und Forschung fördert und für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft nutzbar macht.

Wenn wir nicht den Anschluss verlieren wollen, dann braucht die EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung neue Impulse, eine neue Dynamik. Dann brauchen wir eine erhebliche Steigerung der Investitionen in Forschung, Bildung und Ausbildung. Dann müssen Ausbildung, produktnahe Forschung und innovative Technologie noch viel stärker als bisher verzahnt werden.

In diesen Feldern möchten wir den Ball der finnischen Präsidentschaft aufnehmen und gezielt, vor allem mit Blick auf den Frühjahrsgipfel, weiterspielen.

Dabei geht es auch darum, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen und Arbeitnehmer in Europa zu verbessern. Europa braucht die Vollendung des Binnenmarkts, um im globalen Wettbewerb zu bestehen.

Wir werden uns damit beschäftigen müssen, wie Europas Energieversorgung auch in Zukunft nachhaltig gesichert werden kann. Da der nächste Winter bevorsteht, erinnert sich so mancher an die Schreckgespenster des letzten: Sinkender Gasdruck in den Leitungen, die Furcht, wenn auch medial überhöht, vor kalten Wohnungen ...

Die EU hat sich vorgenommen, beim Frühjahrsgipfel einen Aktionsplan für eine gemeinsame Energiepolitik in Europa zu verabschieden. Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit sind dabei die Grundprinzipien, an denen wir uns orientieren sollten.

Skepsis hat sich auch breitgemacht in einem anderen Feld, das eigentlich eine Erfolgsgeschichte ist. Ich meine die Erweiterung, und ich bin überzeugt, dass sie nicht nur für die neuen Mitgliedstaaten ein Erfolg ist. Die wachsenden Handels- und Investitionsströme zeigen: Auch die „alten“ haben von ihr profitiert.

Dennoch: Vielen Menschen geht das zu schnell. Deshalb ist es so wichtig, dass wir, wie geplant, unter finnischer Präsidentschaft eine grundsätzliche Erweiterungsdebatte führen. Ich sage deutlich: Die Zusagen, die die EU gemacht hat, muss sie einhalten. Das gilt für die laufenden Verhandlungen mit der Türkei und Kroatien; das gilt auch für die europäische Perspektive der westlichen Balkanstaaten.

Doch niemand darf sich täuschen. Die Beitrittsperspektive oder die Aufnahme von Verhandlungen sind kein Freifahrtschein zur EU-Mitgliedschaft. Die Kriterien, die für den Beitrittsprozess festgelegt worden sind, müssen strikt eingehalten werden. Der Weg zur Mitgliedschaft wird wohl ehrlicherweise steiniger werden, als mancher Bewerber heute hoffen mag.

Und: neue Zusagen wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Gleichwohl sind Frieden und Stabilität aber auch in jener Nachbarschaft von europäischem Interesse, in der eine EU-Mitgliedschaft nicht in Sicht ist, also jenseits der heutigen EU-Ostgrenzen und im Süden der Union. Wir dürfen die Kräfte, die sich in diesen Ländern für Demokratie und Marktwirtschaft einsetzen, nicht enttäuschen. Dafür brauchen wir in der EU attraktive und glaubwürdige Angebote.

Im Herbst wird die Europäische Kommission einen Bericht zur Nachbarschaftspolitik vorlegen. Diesen Impuls möchten wir aufnehmen und die Nachbarschaftspolitik während unserer Präsidentschaft fortentwickeln.

Auch ein kooperatives Verhältnis zu Russland liegt im Interesse der Union. Die Neuverhandlung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommen bietet eine gute Gelegenheit, Russland langfristig und unumkehrbar an die EU zu binden.

Unser Blick sollte aber auch darüber hinausgehen, auf die strategisch bedeutsame zentralasiatische Region. Energie und Wirtschaftsbeziehungen, politischer Dialog und kultureller Austausch – mit einer umfassenden Zentralasienstrategie könnte die EU ihre Interessen und Ziele auch dort besser bestimmen.

Was für die unmittelbare geographische Nachbarschaft der EU in Europa gilt, das gilt auch für das Engagement der EU weltweit. Wir fördern den Aufbau einer rechtstaatlichen und demokratischen Ordnung sowie marktwirtschaftlicher Strukturen, um Konflikte zu verhindern und Stabilität zu befördern. Bereits jetzt verfügt die EU dabei über ein breites Spektrum von Handlungsinstrumenten, das von Entwicklungshilfe über Handel und Demokratieförderung bis zu zivilem und militärischem Krisenmanagement reicht.

Und Javier Solana hat recht, wenn er sagt, dass sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU in den letzten Jahren mit „Lichtgeschwindigkeit“ entwickelt habe. Beispielhaft möchte ich nur die ESVP-Missionen im Kongo und in Bosnien-Herzegowina oder das gemeinsame Handeln der EU im Verhältnis zum Iran nennen. Auch der europäische Beitrag zu UNIFIL im Libanon zeigt, welche wichtige Rolle wir Europäer spielen können, wenn wir gemeinsam handeln. In diesem Zusammenhang noch einmal mein ausdrücklicher Dank an unsere italienischen Partner für deren umfassendes und schnelles Engagement!

Ich glaube: Europa ist dabei, sich von einem Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Interessen zu einer gemeinsam handlungsfähigen Kraft in der internationalen Politik zu entwickeln. Und wir können in diesem Prozess nicht stehenbleiben. Neue Herausforderungen sind schon in Sicht wie, um nur eine zu nennen, die kommende Rechtsstaatmission im Kosovo, die bisher größte zivile ESVP-Mission. Für mich steht außer Frage, dass die europäischen Fähigkeiten daran weiter wachsen müssen.

In allen diesen Fragen weiß ich mich in enger Übereinstimmung mit unseren italienischen Freunden. In allen diesen Fragen werden wir gemeinsam gefordert sein.

In einer jedoch ganz besonders: derjenigen nach der Zukunft Europas.

Wie soll es weitergehen mit dem Europäischen Verfassungsvertrag? Die Lage ist alles andere als einfach. Nimmt man die Ergebnisse der bisherigen Ratifizierungsverfahren, so ist Europa in dieser Frage tief gespalten. In zwei Mitgliedstaaten ist die Verfassung in Referenden gescheitert. Unvorstellbar, so sagen unsere französischen und niederländischen Freunde, den Text dort noch einmal zur Abstimmung zu stellen.

Andererseits haben 15 von 25 Mitgliedstaaten dem Verfassungsvertrag bereits zugestimmt; Finnland wird in diesem Jahr nachfolgen; für Bulgarien und Rumänien ist die Verfassung schon Bestandteil des Beitritts. Wer glaubt, er könne die Verfassung einfach über Bord werfen, der ignoriert den Willen der Bevölkerung und Parlamente einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten!

Unsere Haltung ist klar, und, Massimo, Du hast deutlich gemacht, dass es Italien nicht anders sieht: Wir stehen zum Verfassungsvertrag und wollen ihn in seiner politischen Substanz erhalten.

In der Sache halte ich die Argumente für die Europäische Verfassung nach wie vor für überzeugend. Im Europa der 25, bald 27 Mitgliedstaaten ist eine Reform zwingend notwendig. Die Verfassung macht die EU demokratischer, transparenter und effizienter. Sie stärkt Kontinuität und Sichtbarkeit der EU nach innen und nach außen – die Konflikte im Nahen Osten, mit dem Iran oder in Afrika zeigen täglich, wie dringend wir dies brauchen.

Der Europäische Rat hat dem Vorsitz die nicht ganz leichte Aufgabe gestellt, im Juni 2007 einen Bericht vorlegen, der „mögliche künftige Entwicklungen aufzeigen“ und „als Grundlage für weitere Beschlüsse“ darüber dienen soll, „wie der Reformprozess fortgesetzt werden“ kann. Am Ende der deutschen Präsidentschaft werden also keine endgültigen Ergebnisse stehen. Diese sollten rechtzeitig vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2009 vorliegen und in Kraft getreten sein. Das heißt: Hier werden auch die uns nachfolgenden Präsidentschaften gefragt sein.

Unser Ziel als Vorsitz ist aber dennoch ehrgeizig: Wir wollen eine Entscheidung, dass die Anstrengung um die Verfassung fortgeführt wird, verbunden mit einem Beschluss zu den Modalitäten und Zeitplänen. Wir möchten eine Lösung, die Europa arbeits- und zukunftsfähig macht. Und wir rechnen hierbei fest auf die Unterstützung unserer italienischen Freunde!

Meine Damen und Herren,
kein Zweifel – die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind groß. Ohne Dynamik, abgeleitet von dýnamis, der „Kraft“ - ohne Kraft und Mut wird es nicht gehen, wenn wir sie bewältigen wollen!

Am 25. März 2007 feiern wir den 50. Jahrestag der Römischen Verträge. Ein guter Anlass, noch einmal Revue passieren zu lassen, was wir gemeinsam erreicht haben in Europa. Gelegenheit dazu wird vor allem die feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen in Berlin bieten.
Wir sollten diese Chance auch nutzen, um ein wenig voraus zu denken, wie das künftige Europa aussehen soll. Ich wünsche mir, dass wir aus der Stimmung dieses historischen Tages die Kraft entwickeln, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Und es ist ganz natürlich, dass Deutschland und Italien bei der Vorbereitung der Erklärung eng zusammenarbeiten. Nicht nur, weil die Römischen Verträge nun einmal in Rom unterzeichnet wurden, sondern auch, weil unsere beiden Länder, so meine ich jedenfalls, eine gemeinsame Vision für Europa teilen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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