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Helmut Kohls europäisches Vermächtnis: Auftrag und Verpflichtung für die Zukunft

28.06.2017 - Interview

Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (28.06.2017).

Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (28.06.2017).

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Helmut Kohl war von Beginn an ein moderner Konservativer, der seine CDU vom Honoratiorentum befreite. Zugleich war er zeitlebens Leidenschaftseuropäer. Unter seinen Nachfolgern aber hat sich die CDU mit ihrem auf Austerität verengten Blick von Kohls europapolitischem Erbe entfernt. Wenn nun – durchaus zu Recht – in Straßburg eine europäische Ehrung des verstorbenen Altkanzlers stattfinden soll, dann sollte sie mehr beinhalten als eine letzte Ehrerbietung. Sie sollte auch Anlass sein, die Rückbesinnung auf das politische Vermächtnis Helmut Kohls zu einem europapolitischen Neuanfang zu nutzen. Vor allem innerhalb seiner eigenen Partei, der CDU.

Helmut Kohl gehörte zur Flakhelfer-Generation. Die um 1930 geborenen verloren ihre Kindheit in den Geschützstellungen und trugen den ganzen Ballast seelischer Wunden ein Leben lang mit sich herum.

Helmut Kohl hat seine Politik oft mit Rückgriffen auf seine biografischen Erfahrungen erklärt und den Menschen damit näher gebracht. Ich habe seine Politik, bei allen unterschiedlichen Auffassungen, immer auch als Versuch verstanden, dem aggressiven deutschen Nationalismus für immer zu entsagen. Das Wort Francois Mitterands: „Le nationalisme, c‘ est la guerre!“ war auch Leitmotiv Kohl’scher Europapolitik. Ein europäisch integriertes Deutschland sollte für immer imprägniert sein gegen die Versuchungen von Besserwisserei und Großmannssucht. Deutschland wurde Republik und Helmut Kohl Mitgründer einer Partei, die später unter seinem Vorsitz ohne Wenn und Aber pro-europäisch war. Diese klare europapolitische Orientierung hat die Union seit Jahren mehr und mehr aus den Augen verloren und gefährdet damit nicht nur das Vermächtnis ihres Altkanzlers, sondern stellt auch die Kontinuitäten der deutschen Außenpolitik infrage.

Denn für die deutsche Außenpolitik in der Ära Kohl war die europäische Integration das, was das Konzept der Westbindung unter Konrad Adenauer und die Ostpolitik unter Willy Brandt war: bestimmendes Leitmotiv des politischen Handelns. Nach der Verankerung im Westen und dem Frieden im Osten nahm Kohl die Vertiefung der europäischen Einigung in Angriff. Helmut Schmidt hatte gute Vorarbeit geleistet, indem er das Ziel einer „Europäischen Politischen Union“ formulierte, für die Direktwahl des Europäischen Parlaments eintrat und die , die Anwendung des Mehrheitsprinzips im Ministerrat vorschlug, die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Griechenland, Spanien, Portugal vorschlug und gemeinsam mit Valéry Giscard d’Estaing für die Etablierung eines Europäischen Währungssystems sorgte.

Diese Initiativen und Vorarbeiten Helmut Schmidts nutzte Kohl als Fundamente für seine europäische Integrationspolitik. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung im Herbst 1982 stellte er die Frage der deutschen Wiedervereinigung in einen europäischen Kontext. Damit verwies er auf ein zentrales Prinzip des damaligen alten und neuen Außenministers Hans-Dietrich Genscher: „Deutschlandpolitik ist europäische Friedenspolitik.“

Das deutsch-französische Verhältnis war dabei immer von besonderer Bedeutung. Noch vor der deutschen Wiedervereinigung brachte Kohl gemeinsam mit dem Sozialisten Francois Mitterrand die deutsch-französische Brigade auf den Weg.

Mit der Wiedervereinigung schlug Helmut Kohl mit beeindruckender Dynamik europapolitische Pflöcke ein. Der Vertrag von Maastricht zur Gründung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und der Amsterdamer Vertrag ebnen endgültig den Weg in den Euro und machten eine Erweiterung der EU nach Osten zum Auftrag für seine Nachfolger. Helmut Kohl schuf damit die Rahmenbedingungen für die Integration der osteuropäischen Staaten. Die Wiedervereinigung des lange geteilten Europa gelang mit der Aufnahme der ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes in die euro-atlantischen Bündnisse. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder folgt der Spur, die Helmut Schmidt und Helmut Kohl ihm in die Zukunft gelegt haben. Die EU-Osterweiterung erfolgte 2004, und Schröder unterstrich damals, dass der „Traum vieler Generationen in Europa Wirklichkeit wird.“ Im gleichen Jahr treten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern der Europäischen Union bei. Später folgten noch Bulgarien, Rumänien und Kroatien als letzte neue Mitglieder.

Seitdem hat sich die Integrationsdynamik erschöpft, die EU-Erweiterungsambitionen sind quasi auf Eis gelegt. Die wirkliche Krise Europas begann dann an der Wall Street mit der globalen Finanzkrise. Damit ist der Einschnitt markiert, ab dem die europapolitische Debatte in Deutschland vor allem über den Sinn und Unsinn von Hilfs- und Rettungspaketen und Vorschlägen für Sparpolitik bestimmt wurde und wird. In konservativen Kreisen kamen sogar schon wieder Rufe zur Rückkehr zur D-Mark auf. Statt mutig für den europäischen Zusammenhalt ein- und den Spekulationen der Finanzmärkte gegen den EURO entgegenzutreten, wurde die Verantwortung von der Politik zur Europäischen Zentralbank geschoben – um anschließend deren Maßnahmen öffentlich zu kritisieren. Im Kern schürten gerade die Vertreter der früheren Europapartei CDU in Deutschland die Angst vor der finanzpolitischen Überforderung. Die ebenso langlebige wie dumme Erzählung vom „Lastesel Deutschland“ feierte fröhlich Urständ. Und den Deutschen wurde eingeredet, man müsse sie davor schützen, zum „Zahlmeister“ für die Faulen in Europa zu werden.

Im Kern wurde daraus eine handfeste nationale politische Erzählung über Europa, um zu Hause in der eigenen Wählerschaft Stimmen zu gewinnen. Wahlkampf auf Kosten Europas – das wäre Helmut Kohl niemals passiert. Natürlich hätte auch er – und das zu Recht – nationale Reformanstrengungen in den Krisenländern der EU eingefordert. Aber er hätte sie nicht mit diesem verhängnisvollen nationalen Narrativ versehen, sondern im Gegenzug für Reformanstrengungen deutsche Hilfe angeboten. Und er hätte den Deutschen die Wahrheit gesagt: dass wir im Interesse unserer Kinder und Enkel in Europa investieren müssen. Und dass es in Deutschland nur dann genug Arbeit gibt, wenn es unseren Nachbarn gut geht. Denn 60 Prozent unserer Güter und Dienstleistungen exportieren wir in die Europäische Union, nur 10 Prozent nach China oder in die USA.

Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und auch Gerhard Schröder hätten auch gewusst, dass es Situationen geben kann, in denen auch Deutschland die Hilfe seiner Nachbarn braucht. Damit das große Deutschland sie dann bekommt, haben alle Kanzler der Republik Kredit bei den kleineren EU-Staaten aufgebaut. Helmut Kohl konnte mit der deutschen Einheit Geschichte machen, weil die Welt ihm persönlich vertraute, dass das wiedervereinigte Deutschland niemals und niemanden mehr dominieren wollte. Dass gute Nachbarschaft selbstverständlich ist und sich in Freundschaft und Hilfsbereitschaft ausdrückt. Dass Europa ein Projekt Gleicher unter Gleichen ist - und nicht von Armen und Reichen, Großen und Kleinen.

Diesen Kredit war schon reichlich verspielt, als es zur Flüchtlingskrise kam. Statt Deutschland bei der Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme zu helfen, zeigten selbst Länder wie Frankreich uns die kalte Schulter. Längst ist Deutschland in vielen europäischen Mitgliedsstaaten auch zum nationalen Gegner geworden.

Aus diesen nationalen Erzählungen über Europa wieder heraus zu kommen, kann uns die Rückbesinnung auf die Prinzipien von Kohls europäischer Integrationspolitik helfen: Sie wurde eben nicht von Besserwisserei sondern von gegenseitiger Rücksichtnahme getragen. Denn er stand für eine bewusste Selbstbescheidung Deutschlands und einen fairen Interessenausgleich in Fragen der Europäischen Integration.

Helmut Kohl wusste stets, dass die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt vom Vertrauen in sein zurückhaltendes, verlässliches und ausgleichendes Handeln eingebettet war. Schon deshalb müssen wir aufpassen, dass dieser immer noch vorhandene Vertrauensvorschuss Kohlscher Europapolitik vom Spareifer des konservativen Spektrums in Deutschlands nicht endgültig aufgezehrt wird. Der noch immer vorhandene „Europäische Geist“ sollte weder von den Finanzmärkten noch Finanzministern bestimmt werden. Das belehrende Einfordern von Reformen stärkt eben nicht die Akzeptanz deutscher Politik in Europa, sondern nutzt ausschließlich populistischen Strömungen von rechts und links in den betroffenen Ländern – wie wir in den vergangenen Jahren schmerzlich erfahren mussten. Nur unser entschlossenes politisches Engagement kann das Auseinanderdriften des Kontinents verhindern. Das Ausscheiden der Briten und die nationalistischen Tendenzen in einigen Ländern der Europäischen Union sind Vorboten und Begleiterscheinungen einer Desintegration Europas, die sich nicht weiter dynamisieren darf.

Helmut Kohls Stimme fehlt uns heute, weil er wusste, dass sich strategische Großzügigkeit in der Politik mehr auszahlt als misstrauische Pedanterie und Krämerei. Helmut Kohls tief verankertes Engagement für das europäische Projekt ging mit einer großen Bereitschaft zu Kompromissen für das Wohl aller einher. Diese Haltung machte ihn zu einem großen Europäer. Wir sollten uns ihn auf diesem Feld deshalb wieder zum Vorbild nehmen, um das Jahrhundertprojekt der europäischen Integration gemeinsam zum Erfolg zu führen.

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