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„Europa muss sich schnell selber neu aufstellen“

27.12.2016 - Interview

Am 1. Januar 1957, also vor 60 Jahren, trat das Saarland nach einer Volksabstimmung der Bundesrepublik Deutschland bei. Aus diesem Anlass sprachen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas mit der Saarbrücker Zeitung (27.12.2016) über den Zustand Europas.

Am 1. Januar 1957, also vor 60 Jahren, trat das Saarland nach einer Volksabstimmung der Bundesrepublik Deutschland bei. Aus diesem Anlass sprachen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas mit der Saarbrücker Zeitung (27.12.2016) über den Zustand Europas.

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Herr Maas, wie stark hat die frühere französische Geschichte des Saarlandes Ihr Leben geprägt?

Maas: Ganz wesentlich. Ich bin im Saarland direkt an der Grenze aufgewachsen; Französisch war erste Fremdsprache. Das Leben spielt sich mit großer Selbstverständlichkeit auf beiden Seiten ab. Frankreich ist für uns immer auch ein Stück Heimat.

Wirkt der späte Beitritt zur Bundesrepublik bis heute nachteilig nach?

Maas: Nein, aber es gibt im Saarland eine eigene Identität, die sich aus seiner wechselvollen Geschichte entwickelt hat. Meine Oma hat ihr ganzes Leben am selben Ort, in derselben Straße, im selben Haus gewohnt - und doch ständig wechselnde Staatsangehörigkeiten gehabt. Die Saarländer haben erlebt, wie es ist, wenn man zwischen zwei Ländern hin und her geschoben wird. Und haben auch aufgrund dieser Erfahrung immer sehr stark zueinander gestanden. Daraus ist sicher bis heute unser besonderes Lebensgefühl entstanden, die saarländische Identität. Letztere wird nach wie vor außerhalb des Saarlandes erstaunt zur Kenntnis genommen.

Nirgendwo sind etwa so viele Menschen in Vereinen oder in Parteien organisiert. Nirgendwo in Deutschland gibt es so viel Nähe unter Menschen wie bei uns.

Steinmeier: Die Saarländer haben in den letzten 200 Jahren acht Mal den Pass wechseln müssen. Das Saarland ist so etwas wie ein Brennglas der europäischen Geschichte, die viel zu lange auch eine Geschichte von nationalen Rivalitäten, Kriegen und Konflikten war. Wahrscheinlich hat deshalb kaum jemand so vom Zusammenwachsen Europas profitiert und wahrscheinlich ist deshalb auch kaum jemandem in Europa sonst so klar, was 60 Jahre Frieden und Stabilität bedeuten.

Frankreich hat 1955 das Ergebnis der Volksabstimmung im Saarland sofort akzeptiert. Wie wichtig war das für die deutsch-französische Verständigung?

Maas: Es hat sicherlich stark dazu beigetragen. Die deutsch-französische Freundschaft ist ein Grundpfeiler der europäischen Integration geworden. Wenn zwei Länder, die zuvor Erbfeinde waren, sich gegenseitig als Partner empfinden, dann ist das ein Vorbild für ganz Europa.

Würde die deutsch-französische Freundschaft eine Präsidentin Le Pen aushalten?

Steinmeier: Ich habe großes Vertrauen in die europäische Orientierung der großen Mehrheit der französischen Wählerinnen und Wähler. Deshalb besorgt mich diese Frage auch nicht allzu sehr.

Ist Europa in der Krise?

Steinmeier: Europa ist zweifellos in unruhigem Fahrwasser unterwegs und muss sich schnell selber neu aufstellen. Der Brexit hat uns in Turbulenzen gestürzt, Zweifel an der Leistungs- und Handlungsfähigkeit Europas werden lauter.

Europa wieder eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu geben und bei Themen wie der europäischen Sicherheit, Migration und Wirtschaftswachstum voranzukommen, darum geht es jetzt. Und das geht sicher nicht mit jenen, die die Rückkehr zum Nationalen als Lösung für alles und jedes begreifen.

Vor 60 Jahren wurden die Römischen Verträge abgeschlossen, die Gründungsakte Europas. Wo ist die ganze Vision von damals, die Hoffnung geblieben?

Steinmeier: Ich habe manchmal den Eindruck, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa heute als Selbstverständlichkeiten betrachtet werden. Wie wenig das gewiss ist, haben wir gesehen, als mit dem Konflikt in der Ukraine die Frage von Krieg und Frieden plötzlich wieder auf unseren Kontinent zurückgekehrt ist. Und was das Wachstum angeht: Gerade wir in Deutschland, die wir unseren Wohlstand den offenen Grenzen verdanken, müssen wissen, dass auch dieser Wohlstand nicht gesichert ist, wenn wir in einem Europa und einer Welt der Abschottung und des Nationalismus leben würden.

Was kann man praktisch gegen den wachsenden Nationalismus tun?

Steinmeier: Erstens muss Europa dort Antworten geben, wo es sie bisher schuldig ist, vor allem bei der Frage, wie wir in Zukunft mit Migration und Flüchtlingen umgehen. Zweitens müssen wir das ernst nehmen, was die Menschen besorgt, vor allem Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Und drittens werden wir die Zweifler nicht überzeugen können, wenn wir bei dem Thema Arbeit und Wirtschaft nicht vorankommen. In Deutschland stehen wir im Vergleich ganz gut dar. Aber wo die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent und mehr liegt, wird keine Begeisterung für Europa ausbrechen.

Zeigt der Umgang mit der Flüchtlingsfrage in Ungarn und der Pressefreiheit in Polen nicht, dass die gemeinsame Wertebasis Europas schwach geworden ist?

Maas: Das stand in den vergangenen Jahren nicht ausreichend im Mittelpunkt der europäischen Integration. Viele verbinden mit ihr nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Das reicht nicht aus. Frieden und Demokratie sind die Triebfedern von Europa. Wir wollen eine Wertegemeinschaft sein.

Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und jede Form der Freiheit, wie zum Beispiel die Pressefreiheit, gehören unauflösbar dazu. Das müssen wir deutlich machen.

Bringt es die Wertegemeinschaft Europa voran, wenn es der Türkei weiter eine Beitrittsperspektive offen hält?

Steinmeier: Die türkische Opposition bittet uns eindringlich, die europäische Perspektive der Türkei nicht zu kappen. Gerade die, die uns nahe sind, hoffen darauf, dass dieser Prozess nicht beerdigt wird. Die Verantwortung dafür, ob sich die Türkei Europa weiter annähern oder Richtung Osten ausrichten will, muss schon in der Türkei bleiben. Aber eines ist auch klar: Die in der Türkei diskutierte Einführung der Todesstrafe wäre ein unzweideutiges Bekenntnis gegen den Beitrittsprozess.

Als Außenminister mussten Sie sich in ihren Äußerungen gegenüber Autokraten etwas zurückhaltender äußern?

Steinmeier: Falsch. Als Außenminister kommt es darauf an, dass man weiß, wo der Platz für das offene und ehrliche Gespräch ist. Nicht immer ist das das Mikrofon. In Wahrheit verlangt eine lautstarke Presseerklärung in einigen Tausend Kilometern Abstand vom Geschehen doch wenig Mut. Den Mut braucht man im direkten Gespräch.

Maas: Diplomatie besteht ja in erster Linie nicht darin, mit den Guten zu reden. Das Wichtige ist doch gerade mit denjenigen klar zu reden, die schwierig sind. Wir im Justizministerium sind gerade auch mit Staaten im intensiven Dialog, in denen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ausgehöhlt werden.

Auch auf der Krim gab es eine Volksabstimmung. Warum kann Europa die nicht in ähnlicher Weise akzeptieren, wie Frankreich es damals beim Saarland getan hat?

Steinmeier: Das ist doch überhaupt nicht zu vergleichen. Die Voraussetzungen waren doch völlig andere. Das Saarland war staatsrechtlich kein Teil Frankreichs, die Krim aber Teil des Staatsgebiets der Ukraine. Die ukrainische Verfassung sieht auch keine Volksabstimmungen vor. Jeder weiß, wer die „grünen Männchen“ waren und von wem sie auf die Krim geschickt wurden. Es gab keine freien und fairen Bedingungen; unabhängige internationale Beobachter waren nicht zugelassen.

Wie kann dieser Konflikt irgendwann gelöst werden, um das Verhältnis zu Russland wieder zu normalisieren?

Steinmeier: Wir können den Ukraine-Konflikt ganz sicher nicht dadurch lösen, dass wir nachträglich das akzeptieren, was völkerrechtswidrig geschehen ist. Deshalb widmen wir uns der sehr schwierigen Umsetzung des Minsker Abkommens, mit dem es gelungen ist, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Es ist auch der Boden für politische Verhandlungen, mit denen wir leider nur sehr langsam vorankommen. Ich sehe jedoch nichts, was diesen schwierigen Prozess ersetzen könnte.

Was ist in der internationalen Politik Ihr Wunsch für 2017?

Steinmeier: Ich habe in meiner Zeit in der Politik noch nie eine Zeit erlebt, in der es so viele offene Fragen gab wie jetzt. Es geht 2017 um die Zukunft der EU nach dem Brexit, die Zukunft von Sicherheit und Stabilität in Europa nach dem ungelösten Ukraine-Konflikt, aber auch die Zukunft und Stabilität der transatlantischen Beziehungen nach den Wahlen in den USA. Auch die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten harren schon viel zu lange einer Lösung. Ich wünsche mir, dass die engen transatlantischen Bindungen als Fundament des Westens erhalten bleiben, dass die humanitäre Katastrophe in Aleppo das Weltgewissen berührt und es einen Weg in politische Verhandlungen über die Zukunft Syriens gibt. Und ich hoffe für Europa, dass wir auch nach den Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland überall Regierungen haben werden, die sich für Europa einsetzen und die Rückabwicklung des europäischen Integrationsprozesses nicht zulassen.

Maas: Ich wünsche mir, dass es uns in Europa gelingt, auf die wichtigsten Fragen der Menschen gemeinsame Antworten zu finden. Dafür müssen wir unsere gemeinsame Wertebasis auch gegen die Rechtspopulisten verteidigen. Seit 1949 ist das Ziel eines „vereinten Europa“ im Grundgesetz fest verankert. Die Überwindung des Nationalismus war die große Lehre aus zwei Weltkriegen auf deutschem Boden. Abschottung und Nationalismus sind nicht die Antworten auf die Globalisierung und Digitalisierung unserer Welt.

Interview: Werner Kolhoff.

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