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„Deutschland, Israel und die Umbrüche im Nahen Osten“ - Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz

01.02.2016 - Rede

--- Es gilt das gesprochene Wort ---

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Malu Dreyer,
sehr geehrter Herr Professor Wilhelm,
meine Damen und Herren,

vor rund 50 Jahren, an einem heißen Tag im August 1965, traf Rolf Pauls, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, den israelischen Staatspräsidenten Salman Shasar in Jerusalem. Pauls übergab ihm sein Beglaubigungsschreiben. Er war der nun erste deutsche Botschafter in Israel.

Zur etwa gleichen Zeit, in diesem Sommer vor 50 Jahren, endete in Frankfurt am Main die Beweisaufnahme im ersten Auschwitz-Prozess.

Und während Präsident Shasar, Botschafter Pauls und Israels Außenministerin Golda Meir in Jerusalem mit großer Vorsicht die gemeinsame Gestaltung der Zukunft begannen, rief die aufgebrachte Menge vor dem Präsidentenpalast: „Nazi“, „Pauls raus“ und „Sechs Millionen mal nein“. Demonstranten, darunter viele ehemalige KZ-Insassen, durchbrachen schließlich die Absperrung und kesselten den Wagen von Pauls ein. Die israelische Polizei musste einschreiten, um den Feind von einst zu schützen.

Das war die Stimmung damals auf den Straßen Jerusalems, in den ersten Wochen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel.

Und heute? Fünf Jahrzehnte später?

Ich möchte Ihnen dazu eine zweite Geschichte erzählen, eine persönliche.

Im letzten Mai hatte ich die große Ehre in Jerusalem zu sein, bei einer Zeremonie an der Hebrew University auf dem Scopus-Berg, nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Rolf Pauls damals den israelischen Präsidenten traf. Ich bekam dort die Ehrendoktorwürde verliehen.

Auch dies war ein heißer Tag. Im Publikum saßen junge israelische Studenten. Aber es saßen dort auch Überlebende des Holocaust.

Menschen, die die Hölle von Auschwitz überlebt hatten. Und es saß dort der damalige israelische Staatspräsident Shimon Peres. Peres, der große Staatsmann. Peres, dessen geliebter Großvater Rabbi Zwi Meltzer von den Nazis ermordet worden war. Die Nazis hatten den Rabbi und seine Gemeinde in der Stadt Wischnewo in die Synagoge gezwungen, die Tür verriegelt und Feuer gelegt. Von der Gemeinde blieb nur Asche.

Peres, der Enkel des geliebten Rabbis, der in den Flammen starb, hatte mich nun zur Hebrew University begleitet. Er war gekommen, um dem deutschen Außenminister an diesem besonderen Tag zu gratulieren. Und er tat es von Herzen. Als Partner, als Freund.

Das hat mich sehr berührt.

Dass diese einzigartige Freundschaft, die Deutschland und Israel heute verbindet, möglich ist – 70 Jahre nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah - das erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und Freude. Es ist wahrhaftig wie ein Wunder!

Möglich wurde dieses Wunder, weil das Volk der Opfer dem Volk der Täter die Hand reichte. Und weil das Volk der Täter, weil wir Deutsche uns zu unserer Schuld und unserer Verantwortung bekannten. Und uns immer noch bekennen.

Dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte prägt unser Selbstverständnis und wird für immer untrennbar mit unserem Land verbunden bleiben. Unter Geschichte kann man keinen Schlussstrich ziehen. Deswegen ist es unsere Verantwortung, aufzustehen gegen jede Form von Anti-Semitismus und Diskriminierung!

Meine Damen und Herren,

ich bin froh, dass das jüdische Leben in Deutschland heute wieder blüht! Bei uns werden wieder Rabbiner ordiniert. Im letzten Sommer haben junge Sportler in Berlin die größte jüdische Sportveranstaltung Europas, die Makkabiade, gefeiert.

Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Verbindungen zwischen Deutschen und Israelis heute enger und lebendiger sind als je zuvor. Auch hier in Rheinland-Pfalz, so hast Du es mir berichtet, liebe Malu Dreyer. Und vielleicht wirst Du gleich noch mehr dazu sagen. Schüler aus Speyer, Westerburg oder Neuwied besuchen regelmäßig Freunde in Israel. Wissenschaftler in Mainz, Trier und Koblenz forschen und arbeiten gemeinsam mit israelischen Kollegen. Der Austausch ist eng, die Verbindungen vielschichtig. Genau diese Lebendigkeit haben wir im zurückliegenden Jubiläumsjahr mit Veranstaltungen in ganz Deutschland und Israel gefeiert. Und zwar nicht mit politischen Reden (nicht nur! Ihnen bleibt das heute Abend leider nicht erspart). Sondern mit Konzerten, mit Parties, bei Lesungen mit Schriftstellern, auf Open Days deutsch-israelischer Start-Ups.

Auch politisch sind wir in den letzten 50 Jahren gemeinsam einen erstaunlichen Weg gegangen: aus einem vorsichtigen, von Misstrauen geprägten Verhältnis hat sich eine enge Partnerschaft entwickelt.

Jedes Jahr kommen wir mit den israelischen und deutschen Regierungsmitgliedern um einen großen Tisch zusammen und diskutieren Politik, gemeinsame Projekte. In wenigen Tagen ist es wieder so weit in Berlin. Diese Treffen sind für uns kein höfliches diplomatisches Routineprogramm. Es wird dabei oft auch heiß diskutiert, das will ich nicht verheimlichen. Doch genau das zeichnet eben auch eine enge Freundschaft aus: Das offene Wort! Dass wir, auch wenn wir nicht einer Meinung sind – und gerade dann – im engen Dialog bleiben.

Das gilt zum Beispiel dann, wenn wir den Eindruck haben, dass neue Gesetze eine Einschränkung für die NGO-Landschaft in der demokratischen israelischen Gesellschaft bedeuten könnten. Für uns ist klar, dass der Austausch unserer Zivilgesellschaften, wie sie die deutschen politischen Stiftungen im Ausland fördern, sinnvoll und wichtig ist!

Ein offenes Wort mit unseren israelischen Partnern, das gilt aber auch für Fragen, die unseren Umgang mit Israels Nachbarn in der Region betreffen.

Ich sage es ganz eindeutig: Für diese und jede deutsche Bundesregierung ist klar: Israels Sicherheit ist für uns nicht verhandelbar – das ist eine Prämisse unserer Politik.

Wie wir dies sicherstellen, darüber sind wir nicht immer einer Meinung, wie zum Beispiel mit Blick auf das iranische Atomprogramm.

Die Wiener Vereinbarung ist aus unserer Sicht ein historischer Erfolg der Diplomatie. Und wenn Sie diese großen Worte aus dem Munde eines sonst doch eher nüchternen Ostwestfalen hören, dann verstehen Sie vielleicht, wie bedeutend dieses Übereinkommen ist: Nach über 10 Jahren des Konflikts, in denen wir mehr als einmal am Rande einer militärischen Auseinandersetzung waren, ist die Gefahr einer atomaren Aufrüstung in der Region auf absehbare Zeit gebannt! Nach 10 Jahren! Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis: Ich bin vor wenigen Wochen 60 Jahre alt geworden. Auch für jemanden in meinem gehobenen Alter sind 10 Jahre eine lange Zeit!

Wir sind der Überzeugung, dass das Abkommen für Israel und die Region ein eindeutiges Mehr an Sicherheit bringt. Und genau dies zu erreichen, hat uns bei den Verhandlungen motiviert. Trotzdem nehmen wir die Skepsis Israels gegenüber der Vereinbarung ernst. Wir werden genauestens auf die vollständige Implementierung achten.

Auch nach dem Nuklear-Deal ist Iran nicht in kurzer Zeit zu einem normalen Partner geworden. Die Menschenrechtslage, die iranischen Aktivitäten in der Region - die Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien oder der Hisbollah in Libanon - verurteilen wir aufs Schärfste.

Aber wir sehen auch gesellschaftliche Entwicklung in Iran. Die bevorstehenden Parlamentswahlen Ende Februar sind eine wichtige Weichenstellung. Ein Gradmesser für die Chance einer weiteren gesellschaftlichen und politischen Öffnung des Landes.

Das Nuklearabkommen hat bewiesen, dass selbst in tief sitzenden, komplexen Konflikten, die von Misstrauen überlagert werden, eine Lösung möglich ist. Und damit hat das Abkommen auch einen neuen Blick auf Handlungsspielräume innerhalb der Region eröffnet, auf die Lösung der komplexen Krisen in Israels Nachbarschaft.

Der grausame Konflikt in Syrien hat mehr als 11 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Viele sind in die Nachbarländer geflohen, andere weiter nach Europa, viele zu uns nach Deutschland.

Die Geschichten, die sie aus ihrer Heimat erzählen, sind verstörend, erschreckend. In 5 Jahren des Blutvergießens sind über 250.000 Menschen zu Tode gekommen. In vielen Teilen des Landes herrscht Krieg, Terror und Gewalt.

Und klar ist doch: Nur wenn Krieg und Gewalt in Syrien, im Krisenbogen von Libyen bis Irak ein Ende haben, dann haben Menschen wieder eine Perspektive, eine Zukunft in ihrer Heimat! Und nur dann werden auch auf lange Sicht die Flüchtlingszahlen bei uns zu Hause wieder runtergehen! Deswegen ist unsere Arbeit an politischen Lösungen für den Mittleren Osten so wichtig!

Und deswegen ist es so ungeheuer wichtig, dass wir jetzt endlich – zum ersten Mal – einen Prozess zustande gekriegt haben – den

sogenannten Wiener Prozess, bei dem alle Akteure an einem Tisch sitzen, die am Tisch sitzen müssen für eine Lösung in Syrien: Russland und die USA, die Türkei, Iran und Saudi Arabien. Und wir: die Europäer. Dorthin zu gelangen war mühsam, war schwierig. Und genau deswegen ist die derzeitige neue Eskalation zwischen Riad und Teheran so gefährlich. Weil wir diesen wichtigen Prozess nicht aufs Spiel setzen dürfen! Deshalb werde ich morgen erneut in die Region aufbrechen, und mich sowohl in Teheran als auch in Riad mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die Gesprächsfäden nicht abreißen.

Umso wichtiger ist es jetzt, die direkten Gespräche zwischen Delegationen des syrischen Regimes und der Opposition in Genf zu führen. Nur dort kann letztlich die Zukunft des Landes – in der Assad keine Rolle mehr zu spielen hat – verhandelt werden.

Ich glaube nicht, dass diese Gespräche schnell zu einer politischen Lösung führen werden. Aus meiner Sicht wäre schon viel gewonnen, wenn es am Anfang gelänge, zumindest Waffenpausen zu vereinbaren, mit dem Ziel, humanitäre Zugänge zu den vielen belagerten Ortschaften in Syrien zu schaffen.

Denn darum geht es am Ende: den Menschen in Syrien Lebensperspektiven zu geben und sie nicht auch noch zu Vertriebenen werden zu lassen.

Meine Damen und Herren,

Ob mit Blick auf den Atomkonflikt mit dem Iran, auf Libyen oder Syrien – Die Arbeit hin zu politischen Prozessen ist der Kern unserer deutschen Bemühungen im Mittleren Osten.

Dafür ist es nötig, dass wir auch mit schwierigen Partnern reden. Natürlich verstehe ich die Skepsis in der Öffentlichkeit, wenn es um Länder wie Saudi-Arabien geht. Natürlich dürfen wir nicht wegschauen, wenn es um Menschenrechte, um Hinrichtungen oder um Extremismus geht.

Die Frage ist aber, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen. Außenpolitik passiert nicht aus der Sofaecke. Die Augen verschließen, Rollläden runter, Abschottung von den Problemen der Welt – Das kann für uns keine Option sein. Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir auch den Kontakt zu schwierigen Partnern suchen. Denn am Ende gibt es politische Prozesse nur dort, wo Menschen miteinander reden.

***

Das gilt auch für Israel. Und damit bin ich nach dieser Tour durch die Region zurück in Israel selbst. Die Welle von Gewalt, die wir dort derzeit erleben, in Israel, im Westjordanland in Gaza, besorgt uns sehr. Es ist furchtbar, dass Menschen in Angst leben müssen, auf der Straße Opfer wahlloser Gewalt zu werden.

Israel hat jedes Recht, seine Bevölkerung vor Angriffen zu schützen. Doch am Ende gilt auch für das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern, was ich bereits gesagt haben: nur ein politischer Prozess wird diesen jahrzehntelangen Konflikt beenden. Und ohne einen politischen Horizont wird die Gewalt aus dem Leben von Israelis und Palästinensern nicht verschwinden.

Es gilt ja heute fast schon als naiv von Frieden zu sprechen, aber das ist unsere Vision für die Zukunft:

eine gerechte und umfassende Lösung für den Konflikt. Eine Lösung mit zwei Staaten, in der Israel und ein souveränes und lebensfähiges Palästina in Frieden und Sicherheit leben und sich gegenseitig anerkennen.

Siedlungen, auch das sage ich hier ganz klar, behindern den Fortgang des Friedensprozesses und gefährden die Grundlagen der Zwei-Staaten-Lösung. Der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten verstößt gegen Völkerrecht.

Es stimmt: Es ist nicht leicht, aus einer Spirale des gegenseitigen Misstrauens herauszufinden. Um die Richtung zu ändern, brauchen beide Seiten Mut zu schwierigen Entscheidungen!

Auch wir können von außen nur unterstützen, was vor Ort vorhanden ist. Wir unterstützen das Nahostquartett. Und wir unterstützen dessen Vorschlag, dass beide Seiten die Maßnahmen umsetzen, die in bestehenden Abkommen schon angelegt sind.

Wir sind nicht naiv, was die Komplexität der Fragen betrifft, die in diesem Konflikt seit Jahrzehnten auf dem Tisch liegen.

Das erfahre ich selbst übrigens derzeit nicht nur bei meinen Gesprächen mit israelischen und palästinensischen Partnern, in Regierungsbüros oder Konferenzzentren.

Aber Skepsis und Frustration dürfen kein Grund zum Aufgeben sein. Im Gegenteil!

Und es gibt etwas, dass mich optimistisch stimmt: Es ist die Tatsache, dass hier bei uns und in Israel eine Generation heranwächst, die in allen Gesellschaftsbereichen von Wirtschaft bis Kultur vernetzt ist. Eine Generation, die kritische Fragen stellt – auch an die Politik der eigenen und der jeweils anderen Regierung. Vor allem aber eine Generation, die neugierig ist aufeinander und auf die Welt; die international denkt und lebt.

Wenn ich auf diese Generation schaue – dann weiß ich, so unfriedlich die Welt auch sein mag: Unsere deutsch-israelische Hoffnung von Versöhnung und Verständigung war nicht naiv und sie wird es auch morgen nicht sein!

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