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Rede von Außenminister Steinmeier zur gesamteuropäischen Sicherheitspartnerschaft

11.12.2008 - Rede

Eine neue Charta für eine gesamteuropäische Sicherheitspartnerschaft hat Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in einer Rede vor der Schwarzkopf-Stiftung in Berlin vorgeschlagen. Eine Reihe konkreter vertrauensbildender Maßnahmen sind hierfür Voraussetzung.


Ich danke der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung für die Einladung, heute - mit dem Abstand von 37 Jahren – gemeinsam einen neuen Blick auf die Friedensnobelpreisrede Willy Brandts vorzunehmen.

Dass im gleichen Jahr, in dem Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhielt, auch die Schwarzkopf-Stiftung gegründet wurde, ist gewiss nur ein schöner Zufall, aber ein schöner Zufall eben doch.

Siebenunddreißig Jahre – das ist in der schnelllebigen Zeit von heute eine kleine politische Ewigkeit. Es ist gewiss auch mehr als das Lebensalter der meisten Zuhörer heute Abend hier im Saal. Daher lohnt es sich, uns kurz die Verhältnisse jener Zeit in Erinnerung zu rufen.

Sie konnten es gerade selbst sehen: medientechnisch war es die schwarz-weiß-graue Vorzeit. Es gab in der Bundesrepublik damals gerade einmal zwei bundesweit ausstrahlende Fernsehsender. Wem deren Programm nicht passte, der hatte im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Radio hören oder früher ins Bett gehen. Internet und e-mail, Mobiltelefone oder i-Pods gab es noch nicht einmal als Science-Fiction.

Schwarz-weiß war aber nicht nur das Fernsehen jener Tage, schwarz-weiß war vielfach auch das Denken in Ost und West.

An der Mauer, die nur wenige hundert Meter von hier diese Stadt Berlin, Deutschland und Europa teilte, standen sich nämlich nicht nur zwei waffenstarrende Blöcke gegenüber, sondern auch zwei ideologisch verfeindete Lager. Zwischen ihnen stand ein „Berg des Misstrauens“, wie Willy Brandt es selbst einmal nannte.

Dieser Starrheit der Blöcke hat Willy Brandt die Beweglichkeit seines Denkens entgegengesetzt – gegen viele Widerstände. Willy Brandt war seiner Zeit damit weit voraus.

Viele der drängendsten Probleme, die wir Heutigen – und die vor allem Sie, die junge Generation - als aktuelle Schicksalsfragen verstehen, hat Willy Brandt bereits zu Beginn der siebziger Jahre als Aufgabe seiner Zeit begriffen – das wurde gerade im Vortrag von Herrn Bütow sehr deutlich.

Willy Brandt sah die Welt im Wandel, und er erkannte bereits in aller Klarheit die heraufziehenden „Probleme globalen Ausmaßes“, wie er sie nannte: die Schattenseiten der Globalisierung, den Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, die Überwindung des Nord-Süd-Gegensatzes, die Einbindung aufsteigender Mächte.

Willy Brandt hat Frieden stets breit definiert, und er hat darin immer weit mehr gesehen als die Abwesenheit von Krieg.

Heute würde man von einem erweiterten Sicherheitsbegriff sprechen. Auch das war neu in seiner Zeit, in der das Reden über Sicherheit sich oft im Zählen von Raketensprengköpfen und Panzern erschöpfte.

Willy Brandt hatte stets mehr im Blick. Ihm ging es nicht um die Gegensätze zwischen Ideologien und Gesellschaftssystemen, sondern um die Zukunft der Menschheit und die Schaffung einer gerechten Welt.

Und das hieß zuallererst: Den Weltfrieden zu erhalten und ein Europa des Friedens zu organisieren. Das war das Ziel, das Willy Brandt mit seiner Politik aktiv und tätig verfolgte.

Seine Biographie prädestinierte ihn dafür. Ein von Hitler verfolgter Sozialdemokrat, der in Berlin gegen die Bedrohungen des Kommunismus seinen Mann gestanden hatte.

Als Bürgermeister von Berlin zur Zeit des zweiten Ultimatums von Chruschtschow und zur Zeit des Mauerbaus wusste er um die Bedrohung der Freiheit, aber er wusste vor allem um die praktischen Folgen von Politik für das Leben der Menschen. Gerade ihnen galt sein vorhin gehörter Satz, dass kleine Schritte besser sind als keine Schritte.

Denn Willy Brandt hatte in den sechziger Jahren in Berlin und in Bonn beobachten müssen, wie eine Politik gegenüber dem Osten, die nur darauf aus war, zu verhindern, statt zu gestalten, geradewegs in die Selbstblockade führte.

Er konnte verfolgen, wie die „hardliner“ im eigenen Lande nichts anderes erreichten, als – gewiss unwillentlich - die Stärkung der „hardliner“ im Osten.

Willy Brandt hat daraus den Schluss gezogen, dass Politik nicht in bloßer Verweigerung bestehen kann – und schon gar nicht in der Weigerung, die Realität zur Kenntnis zu nehmen.

Bereits 1967 schrieb er: „Wir haben von den historischen Tatsachen auszugehen, wenn wir die Tatsachen verändern wollen“.

Es war diese Einsicht in das Notwendige, die ihm die Freiheit des Handelns verschaffte.

Willy Brandts Politik zielte darauf ab, die Lage in Europa und in Deutschland zu verändern, gerade indem er den Status quo zum Ausgangspunkt seines politischen Handelns machte.

Er setzte gegenüber den Nachbarn im Osten auf Respekt und Berechenbarkeit – und gewann dafür dort Vertrauen und am Ende auch Wandel.

Vertrauen schaffen, Verständigung fördern über Grenzen hinweg– das sind Ziele, die auch die Schwarzkopf-Stiftung und die für die Stiftung engagierten jungen Menschen verfolgen. Sie sind heute nicht weniger wichtig als damals.

Für den Erfolg Willy Brandts war damals auch noch etwas ganz anderes maßgeblich: Wahrhaftigkeit. Nach innen und nach außen. Und dazu gehörte ganz besonders auch das Eingeständnis der Wurzeln des deutschen Unheils.

Entscheidend war schließlich aber auch dies: Willy Brandt hat, als es darauf ankam, die Zeichen der Zeit erkannt – allen voran das Bestreben der Verbündeten im Westen, beginnend mit Präsident Kennedy, endlich aus dem Kreislauf von Drohung und Gegendrohung auszubrechen.

Willy Brandt hat es verstanden, die sich verändernden internationalen Bedingungen zu erkennen, zu prägen und mit viel Mut, gegen Widerstände im eigenen Land, in eine neue, ganz konkrete Ostpolitik umzusetzen. Das war eine Erfahrung, die meine Generation zur Politik gebracht hat. Der Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos hat uns berührt und geprägt.

Mit den Ostverträgen hat er den Frieden in Europa sicherer gemacht, vor allem aber: er hat für das Leben einer großen Zahl von Menschen ganz unmittelbare Verbesserungen erreicht.

Um es mit den Worten des Nobelpreiskomitees zu sagen: „Im Geiste des guten Willens hat er außerordentliche Ergebnisse bei der Schaffung von Voraussetzungen für den Frieden in Europa erzielt“.

Von Willy Brandts Ostpolitik führt ein gerader Weg zum Fall der Berliner Mauer, zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas.

Jene Tage, die Tage der großen Wende von 1989, waren eine Zeit der Aufbruchstimmung, eine Zeit besonderer Hoffnung, in Deutschland, in Europa und in der Welt.

Mit der Überwindung der europäischen Teilung verband sich die Hoffnung auf eine neue Weltordnung und auf das Ziel einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok – einer Friedensordnung, die die nordamerikanischen Demokratien, Europa und Russland umfasst.

Diese Erwartung fand in der Charta von Paris von 1990 ihren feierlichen Ausdruck. Die Charta sprach von einem neuen Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit in Europa.

Seither ist viel erreicht worden: Es gibt in der Mitte Europas keine Grenzsoldaten mehr, keine Planspiele um den Einsatz taktischer Kernwaffen in der Fulda-Gap, und der „Schwarze Kanal“ ist auch von der Bildfläche verschwunden.

All diejenigen, die heute leichtfertig von einem neuen Kalten Krieg sprechen, scheinen zu vergessen, was all dies, was Mauer und Stacheldraht, was ideologische Gegnerschaft und was atomare Hochrüstung konkret bedeutet haben.

Richtig ist aber auch: Wir haben es nicht geschafft, den Krieg aus Europa zu verbannen.

Der Friede in unserer europäischen Nachbarschaft ist noch nicht sicher. Der Georgien-Krieg hat gezeigt: Immer noch wird militärische Gewalt als Mittel der Politik in Europa eingesetzt. Misstrauen und Bedrohungsvorstellungen sind deutlicher zurückgekehrt, als wir uns das haben vorstellen können.

Diese Wiederkehr alten Denkens widerspricht den Lehren der leidvollen Geschichte Europas. Mehr noch: Sie hindert uns daran zu tun, was jetzt gefordert ist: Eine gemeinsame Zukunft für das größere Europa zu gestalten.

Die neuen Herausforderungen an unsere Sicherheit unterscheiden nicht nach West und Ost. Sie verlangen gemeinsames Handeln der USA und Kanadas, der Europäischen Union und ihrer östlichen Nachbarn einschließlich Russlands.

Klimawandel, Finanzkrise, Bekämpfung des Terrorismus – angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden Dialog und Miteinander und der Ausgleich von Interessen zum strategischen Imperativ unserer Epoche.

Konkret heißt das für mich: Wir brauchen eine Friedensordnung, die beruht auf einer Verständigung über gemeinsame Interessen, gemeinsame Werte und gemeinsame Sicherheit.

Es geht um nicht weniger als eine erneuerte Sicherheitspartnerschaft für das 21. Jahrhundert, die dauerhaft den Frieden sichert. Sie ist nicht möglich ohne die enge, transatlantische Partnerschaft mit den USA und Kanada.

Willy Brandt betonte schon 1969 die Notwendigkeit, die Verständigung mit dem Osten in Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Partnern im Westen zu suchen.

Deshalb ist es ein gutes Zeichen, dass Barack Obama in seiner Berliner Rede gefordert hat, das Denken in Kategorien des Kalten Krieges zu überwinden und eine Partnerschaft zu bilden, die den gesamten Kontinent – auch Russland – umfasst.

In der Tat: Keine der drängenden Fragen – von der Energiesicherheit über die Rüstungskontrolle bis zum Kampf gegen den Terrorismus – werden wir ohne oder gar gegen Russland meistern können.

Deshalb sage ich ganz offen: Wir brauchen Russland - so schwierig das auch manchmal ist - als Partner, nicht als Gegner in der gemeinsamen Verantwortung für Sicherheit und Stabilität in Europa.

Umgekehrt gilt aber auch: Russland braucht uns. Ohne Europa wird Russland die gewaltige Herausforderung seiner Modernisierung nicht bewältigen können.

Darum sollten wir aufmerken, wenn Russlands Präsident Medvedev - ebenfalls hier in Berlin - seinerseits Interesse an einem neuen Versuch gesamteuropäischer Sicherheit bekundet.

Welche Form eine Sicherheits-partnerschaft am Ende auch annehmen wird – auf eines kann man sich schon heutige verständigen: Sie verlangt zunächst und vor allem Vertrauen.

Vertrauen, das uns in den letzten Jahren wieder abhanden gekommen ist.

Vertrauen, das wir jetzt mit konkreten Schritten wieder herstellen müssen.

Deshalb schlage ich eine ganz konkrete Agenda der Vertrauensbildung für Europa vor:

_Erstens_ : Wir brauchen einen Neubeginn in der konventionellen Rüstungskontrolle. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Vertrag über konventionelle Rüstungskontrolle und sein System der Vertrauensbildung weiter erodieren.

Vielmehr müssen wir den Vertrag an die neuen Gegebenheiten Europas nach dem Ende des Kalten Krieges anpassen. Dazu werde ich schon in Kürze hochrangige Experten aus den beteiligten Staaten zu einem Treffen nach Deutschland einladen.

_Zweitens_ : Wir brauchen Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Sicherheit Europas und der Welt im 21. Jahrhundert wird nicht auf den Waffen des vergangenen Jahrhunderts beruhen. Im Gegenteil.

Im Nichtverbreitungsvertrag haben sich die Nuklearmächte zu weiterer nuklearer Abrüstung verpflichtet. Diese Zusage müssen sie einlösen. Und weitere konkrete Schritte sind erforderlich. Vorrangig ist dabei eine Verständigung über ein Nachfolgeabkommen zum START-I-Vertrag, der im kommenden Jahr ausläuft, und ein Inkrafttreten des Nuklearen Teststoppvertrags.

Wenn die großen Männer der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik, Henry Kissinger, Sam Nunn, George Shultz und William Perry, das Ziel einer atomwaffenfreien Welt beschwören, dann sollten wir sie mit einer _europäischen_ Antwort darin bestärken. Und die kann nicht nur im Verzicht auf eigene Atomwaffen bestehen, sondern muss sich auch der Frage annehmen, wie wir die Gefahren, die mit der Ausbreitung der zivilen Nutzung der Kernenergie einhergehen, bannen können.

Dazu habe ich einen konkreten Vorschlag zur Internationalisierung des Brennstoffkreislaufs gemacht. Er soll Staaten, die Nuklearenergie nutzen wollen, Technologiezugang ermöglichen, ohne dass ein Proliferationsrisiko für uns alle entsteht.

_Drittens_ : Ein Neubeginn ist auch im Verhältnis zwischen der NATO und Russland dringlich. Deshalb sollte der NATO-Russland-Rat jetzt möglichst rasch wieder zusammentreten - gerade im aktuell etwas schwierigeren Fahrwasser. Denn Gremien, die nur bei schönem Wetter nützlich sind, kann sich die internationale Diplomatie nicht leisten. Gerade in solchen Zeiten sollten wir von der Möglichkeit der kontroversen Diskussion - durchaus auch des Streits - Gebrauch machen.

Wir sollten im Dialog mit Russland systematisch prüfen: Wo lassen sich Dinge gemeinsam voranbringen? Ich denke da zum Beispiel an die Eindämmung der Drogenkriminalität in Afghanistan oder ob nicht auch Russland ein Interesse daran hat, sich an der Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika zu beteiligen.

Und wäre es nicht an der Zeit, mit dem Projekt einer gemeinsamen Raketenabwehr ernsthaft zu beginnen?

Auch an der Abwehr von Gefahren, die sich aus der Proliferation von nuklearen Trägersystemen ergeben, haben die USA, Europa und Russland ein _gemeinsames_ Interesse. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir dann nicht auch eine gemeinsame Abwehr dagegen aufbauen. Diese potenzielle Bedrohung sollte uns einigen – nicht spalten.

Der NATO-Russland-Rat ist genau der richtige Ort, um hierüber ins Gespräch zu kommen.

_Viertens_ : In der direkten westlichen Nachbarschaft Russlands herrscht ein akuter Mangel an Vertrauen in die Stabilität der europäischen Ordnung.

In den Köpfen und Herzen der Menschen lebt die unheilvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts fort – und mit ihr das Bild eines imperialen Russlands, geprägt für die meisten von 70 Jahren Zugehörigkeit zur Sowjetunion.

Russland sollte selbst jedes Interesse haben, seinen Nachbarn das Gefühl der Bedrohung zu nehmen.

Ein praktischer Beitrag hierzu wären substanzielle Fortschritte bei der Lösung der Territorialkonflikte in Moldau, Nagorno-Karabach und Georgien.

Alle drei Konflikte sind ohne die konstruktive Mitwirkung Russlands nicht zu lösen.

Das gilt vor allem für Georgien. Frieden und Stabilität dort werden nur gelingen, wenn wir einen politischen Prozess auf den Weg bringen, der alle Seiten an einem Tisch zusammenführt. Die Genfer Georgien-Gespräch sind der richtige Rahmen hierfür; sie müssen deshalb fortgesetzt werden – auch über das Ende dieses Jahres hinaus. Deshalb wäre es gut, wenn Russland von seiner Ankündigung keinen Gebrauch macht, diese Gespräche mit uns nur bis zum Ende dieses Jahres zu führen.

_Fünftens_ : Auch die EU kann mit einer Intensivierung ihrer Nachbarschaftspolitik nach Osten zur Vertrauensbildung beitragen.

Die Europäische Kommission hat in der vergangenen Woche konkrete Vorschläge vorgelegt, die in die richtige Richtung weisen: Eine „östliche Partnerschaft“ mit der Ukraine, Moldau, den Staaten des südlichen Kaukasus und auch Belarus, wenn sich die derzeitige positive Entwicklung dort fortsetzt.

Wir unterstützen die tschechische EU-Präsidentschaft in ihrem Ziel, dazu schon im kommenden Frühjahr konkrete Beschlüsse zu fassen.

Wir sollten jedoch den Kreis nicht zu eng ziehen. Wir benötigen eine breit angelegte Initiative für die Stabilisierung des Schwarzmeerraumes und des südlichen Kaukasus.

Sie sollte offen sein für die Mitwirkung Russlands, der Türkei, der internationalen Finanzorganisationen, aber auch interessierter Staaten Zentralasiens und der USA.

Auch hier geht es darum, die Verantwortung der EU für Sicherheit und Stabilität in ihrer östlichen Nachbarschaft zu stärken. Der Georgien-Konflikt hat gezeigt, was die EU hier zu leisten imstande ist – und er hat auch gezeigt, dass die EU sich dieser Verantwortung gar nicht entziehen kann.

Ohne das beherzte Eingreifen der französischen Präsidentschaft wäre es nicht gelungen, die Waffen in Georgien schon nach wenigen Tagen zum Schweigen zu bringen und das Leid der Menschen dort zu lindern.

Ein Neubeginn bei der konventionellen und nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle, die Wiederbelebung und Neuausrichtung des NATO-Russland-Rates, Vertrauensbildung in unserer gemeinsamen Nachbarschaft – all das sind „essentials“ einer Agenda der Vertrauensbildung in Europa.

Sie entschlossen anzugehen, ist eine der zentralen politischen Aufgaben für das kommende Jahr 2009.

Denn nur wenn es uns gelingt, Schritt für Schritt die Negativspirale von Misstrauen und Sprachlosigkeit umzukehren, können wir uns in einem zweiten Schritt daran machen, die große Vision einer Sicherheitspartnerschaft für das 21. Jahrhundert zu verwirklichen.

Am Ende dieses Prozesses könnte ein verbindliches Dokument stehen, das unser gemeinsames Verständnis europäischer Sicherheit ausdrückt. Ich denke dabei an eine neue Charta, die die Charta von Paris aus dem Jahre 1990 mit einer erneuerten Agenda fortführt. Alle Staaten von Vancouver bis Wladiwostok müssten sich an ihrer Ausarbeitung beteiligen können.

Die Charta von Paris hatte vor allem klassische Sicherheitsgefahren im Blick. Seitdem sind neue Bedrohungen hinzugetreten: organisierte Kriminalität und illegale Migration, Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Klimawandel und Ressourcenknappheit.

Eine neue Charta müsste deshalb auf einem breiteren, zeitgemäßen Verständnis von gemeinsamer Sicherheit beruhen.

Das bedeutet nicht, dass wir die Prinzipien und Grundsätze von KSZE und OSZE aufgeben sollten. Ganz im Gegenteil: Die Respektierung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat, Achtung der territorialen Integrität, Verzicht auf die Androhung und die Anwendung von Gewalt, gleiche und ungeteilte Sicherheit für alle, freie Bündniswahl - all dies bleibt unverzichtbar für ein friedliches Zusammenleben im gemeinsamen europäischen Haus.

Auch die erneuerte Charta müsste auf den bestehenden Institutionen aufbauen. EU, OSZE und NATO bleiben maßgeblich für die Stabilität auf unserem Kontinent. Aber wir sollten den Mut aufbringen, das System europäischer Sicherheit weiter zu denken und es auszubauen – auch die NATO.

Im Jahre 1967 markierte der sogenannte Harmel-Bericht einen Paradigmen-wechsel in der Strategie des atlantischen Bündnisses. Er bezeichnete eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung für ganz Europa als das höchste politische Ziel des Bündnisses.

Und er beschrieb eine neue Strategie, um zu diesem Ziel zu gelangen: Weg von Sicherheit durch militärische Abschreckung – hin zu einer Doppelstrategie von Sicherheit durch Verteidigungsfähigkeit und Entspannungspolitik.

Ich sage: Wir brauchen heute ein ähnlich umfassendes, innovatives Konzept für die Zukunft der Allianz im 21. Jahrhundert – eine Art neuer Harmel-Bericht.

Ein solches Konzept müsste auf die drängenden Fragen nach der Zukunft der Allianz eine überzeugende Antwort geben. Dazu gehört auch die Frage, wie eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland im Raum von Vancouver bis Wladiwostok und, wenn nötig, darüber hinaus gestaltet werden kann.

„Friedenspolitik ist eine nüchterne Arbeit“ hat Willy Brandt in Oslo gesagt. Das ist gar nicht zu bestreiten. Aber der Lohn ist groß! Wir brauchen den Frieden als Voraussetzung für die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben.

Willy Brandt hatte recht: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts!“

Friedenspolitisches Handeln vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen – das hieß 1971 nichts anderes als heute: Für eine Politik einzutreten, die strategische Zielsetzungen mit dem Sinn für das Machbare verbindet.

Willy Brandts Denken hat an Aktualität nichts eingebüßt. „Nichts kommt von selbst und nur wenig ist von Dauer“, hat er gesagt. Auch Frieden nicht, auch wenn er uns in 50 Jahren EU selbstverständlich geworden ist. Begreifen wir das als Auftrag, gerade auch der jüngeren Generation!

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