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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Verleihung der Tarabya-Medaille an Rita Süssmuth durch die Deutsch-Türkische Gesellschaft

20.05.2015 - Rede

Sehr geehrter Herr Professor Sağlam,
Herr Botschafter,
Exzellenzen,
lieber Gerd Andres,
verehrte Gäste,
liebe Rita Süssmuth!

Vor über 40 Jahren wurde mit dem Bau der Bosporus-Brücke begonnen. Zum ersten Mal in der Geschichte sollte es eine Verbindung zwischen Europa und Asien auf dem Landwege geben. Seither ist viel passiert. Und die einzige Verbindung zwischen Europa und Asien, zwischen Deutschland und der Türkei, ist die Bosporus-Brücke heute zum Glück bei weitem nicht mehr.

Nein, viele Brücken sind seitdem zwischen unseren Ländern entstanden, auf allen Ebenen. Und daran hatten und haben Sie, liebe Frau Dr. Süssmuth, einen großen Anteil.

Ich erinnere mich sehr gut, wie wir vor einigen Jahren zusammensaßen und Sie mir mit Begeisterung von Ihrer Idee berichteten, wie wir die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Deutschland noch weiter ausbauen könnten.

Die Frucht dieser Überlegungen, und das Resultat Ihrer langjährigen Arbeit, liebe Rita Süssmuth, steht heute nicht weit von der Bosporus-Brücke entfernt, in Istanbul: Die Türkisch-Deutsche Universität.

Gewiss: Platz für die hunderttausende von Menschen, die jeden Tag die Bosporus-Brücke überqueren, gibt es an der Uni nicht. Aber - sie ist ja auch noch jung!

Sie, liebe Frau Süssmuth, waren es, die von Anfang an dieses Projekt geglaubt hat, es angeschoben und verteidigt hat. Was mich dabei besonders beeindruckt hat, sind zwei Eigenschaften, die ihre politische Arbeit der letzten Jahrzehnte geprägt haben: Ihre Ausdauer zum einen. Diese unermüdliche Energie, von der wohl jeder berichten kann, der schon einmal mit Ihnen zusammenbearbeitet hat.

Und Ihr Mut! Der Mut, Ihre Ideen und Überzeugungen auch gegen Widerstände zu verteidigen. Ob Ihr Einsatz in der Zuwanderungspolitik, Ihre Arbeit für die Gleichstellung oder Ihr beherztes Einstehen für die Verhüllung des Reichstages als Bundestagspräsidentin - So kompliziert und umstritten das Thema, so hart der Gegenwind: Ihr Ziel hatten Sie stets fest im Blick und Sie arbeiteten unaufgeregt und mit großem Engagement darauf hin.

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk hat einmal sehr poetisch ausgedrückt, was vielleicht Ihre Herangehensweise an die Probleme unserer hektischen Welt beschreibt. Er sagte:

„Meist hängt unser Glück oder Unglück nicht von dem Leben selbst ab, das wir führen, sondern von dem Sinn, den wir ihm verleihen. Dabei gilt es, in einer verwirrend schwierigen, schnelllebigen Welt inmitten des Trubels und Getöse den verblüffenden Gängen des Lebens einen Anfang, einen Mittelpunkt und ein Ende abzugewinnen.“

***

Für Ihre Vision einer Türkisch-Deutschen Universität hatten Sie immer eine Vorstellung von Anfang, Mittelpunkt und Ende Ihrer Bemühungen. Sie flogen damals unzählige Male in die Türkei. Halbe Nächte haben Sie häufig genug auf den Flughäfen von Köln, Düsseldorf und Istanbul verbracht. Zum Leidwesen derer, die Sie damals begleiten durften.

Von Anfang an haben Sie in der Universität weit mehr gesehen haben, als nur ein Zentrum des Lernens. Sondern eben auch: ein gemeinsames Projekt, das ausstrahlen und verbinden kann, weit über den Wissenschaftsbereich hinaus.

Vor ziemlich genau fünf Jahren haben wir beide genau diese Hoffnung zu Papier gebracht, in einem gemeinsamen Brief. Ich habe mir diesen Text vor kurzem noch einmal angesehen.

„Eine deutsch-türkische Universität“, so schrieben wir damals, „(sie) kann weit über den akademischen Bereich hinaus die Funktion eines Leuchtturms erfüllen - gegen das Nebeneinander, gegen die immer wieder behauptete angebliche Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Religionen und Kulturen und für das bewusste und gegenseitig befruchtende Miteinander.“

Heute, liebe Rita Süssmuth, scheinen wir auf dem richtigen Weg, dass sich diese Vision erfüllen kann. An der Türkisch-Deutschen Universität sind heute über 300 Studierende in acht Studiengängen eingeschrieben. Der Anfang ist gemacht. Der türkische Staat bringt den Ausbau des Campus voran. In Zukunft sollen dort mehr als 5000 Studierende lernen und forschen.

Das ist eine vielsprechende Entwicklung, die hoffentlich anhält!

Sie, liebe Frau Süssmuth, haben das große Potenzial schon früh erkannt, dass zwischen Deutschland und der Türkei in den Bereichen Wissenschaft, Forschung und Kultur vorhanden ist.

Seit die Türkei vor über 10 Jahren dem Bologna-Prozess und dem ERASMUS-Programm beigetreten ist, stellt Deutschland für türkische Studierende das zweitbeliebteste Zielland dar. In der Türkei sprechen heute rund 5 Millionen Menschen Deutsch. Und die gute Nachricht ist: Immer mehr junge Türken wollen unsere Sprache lernen!

Menschen in Deutschland und der Türkei sind neugierig aufeinander, neugierig auf das andere Land, auf die andere Kultur, die Sprache. Das wollen wir weiter fördern!

***

Mit der Kulturakademie Tarabya in Istanbul etwa, die aus der Mitte des Deutschen Bundestags initiiert wurde. In der Akademie kommen Künstlerinnen und Künstler aus beiden Ländern zusammen. Sie tauschen Ideen, lernen sich kennen und arbeiten an neuen Werken. Ein anderes zukunftsweisendes Projekt ist die deutsch-türkische Jugendbrücke, die die Mercator-Stiftung ins Leben gerufen hat, und die dem Jugendaustausch wichtige neue Impulse gibt.

Deutschland und die Türkei, das ist eine Beziehung mit Geschichte: eine besondere und bewegte Geschichte: Vom Beginn -- der Entsendung eines preußischen bzw. osmanischen Gesandten in das jeweils andere Land im 18. Jahrhundert -- über das Exil, das deutsche Wissenschaftler, Architekten und Künstler während der NS-Herrschaft in die Türkei brachte, über Deutschlands Anwerbung von sogenannten „Gastarbeitern“ in den 1960er Jahren.

Die deutschen Emigranten der 1930er und 40er Jahre, Menschen wie Ernst Reuter, Bruno Taut haben der Türkei viel zu verdanken – und mit ihnen unser Land. Diese Menschen haben damals Brücken der Bildung und der Kunst gebaut. In ihrer Tradition stehen Sie, liebe Frau Süssmuth. Und in dieser Tradition soll die deutsch-türkische Partnerschaft stehen.

Sind wir deshalb politisch immer einer Meinung? Bestimmt nicht.

Aber gerade wenn wir in der Politik nicht immer einig sind, kommt es umso mehr auf die gesellschaftlichen Verbindungen an! Eine so tiefe und vielfältige Beziehung wie die deutsch-türkische geht niemals auf in Politik.

Sie ruht auf den menschlichen Verbindungen, den Verbindungen zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, Unternehmern und Arbeitern, Familien und Schülern – das ist der Kern unserer Beziehungen und auf den Kern können wir bauen!

***

Diese Freundschaft in all ihren Facetten zu pflegen und auszubauen, lieber Gerd Andres, dem hat sich auch die Deutsch-Türkische Gesellschaft verschrieben. Lieber Gerd, ich bin Dir und Deinen Kollegen dankbar für Euer Engagement und für die regelmäßige Vergabe dieses besonderen Preises.

Unserer Preisträgerin, Rita Süssmuth, ging es wie Euch nie nur um ein Zusammenwachsen unserer beiden Länder, sondern immer auch und ganz besonders um ein Zusammenwachsen zwischen Türken und Deutschen hier in Deutschland. Hier, wo drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben.

Im Jahr 2000 berief der damalige Bundesinnenminister Otto Schily Sie in die „Unabhängige Kommission Zuwanderung“. Die wenigsten Menschen kennen dieses Gremium heute. Warum? Nicht, weil es in Vergessenheit geraten ist. Nein, weil es dank des herausragenden und prägenden Engagements seiner Vorsitzenden schnell einen anderen Namen bekam: Die „Süssmuth-Kommission“.

Deutschland ist ein Einwanderungsland! Das haben Sie in unserem Land als eine der ersten erkannt und offen ausgesprochen. Mit Ihrer Arbeit in der Kommission haben Sie zu einem Paradigmenwechsel in unserer Zuwanderungspolitik beigetragen, dazu, dass es nun eine echte Integrationspolitik gibt in Deutschland – und davon zehren wir bis heute!

Wir haben Integrationskurse geschaffen. Und wir haben das Angebot von Deutschkursen massiv hochgefahren, weil wir gesagt haben: Wer hier lebt, gehört zu uns. Und wer zu uns gehört, soll mitreden. Deshalb ist der Spracherwerb so wichtig!

Seitdem sind wir noch weiter vorangekommen. Im Jahr 1999 haben wir an den ehernen Türmen des Staatsbürgerschaftsrechts erstmals und mit großem politischen Widerstand gerüttelt. Jetzt haben wir endlich den logischen nächsten Schritt getan. Wer in Deutschland geboren ist, soll Deutscher sein, und wer beide Wurzeln in sich trägt, soll so auch leben dürfen! Und deswegen hat es jetzt endlich ein Ende mit der Optionspflicht, meine Damen und Herren! Die Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit - vor 15 Jahren noch bis „aufs Blut“ bekämpft - ist Realität!

Mittlerweile gehört Deutschland zu den beliebtesten Einwanderungsländern weltweit. Schon heute ist bei uns der Anteil derjenigen, die im Ausland geboren sind, genauso hoch, wie im Einwanderungsland schlechthin- den USA!

Klar ist für mich: Deutschland gewinnt durch diese Vielfalt! Und dass sich diese Einsicht durchsetzt, dafür, liebe Rita Süssmuth, steht auch Ihr Name. Und dafür danken wir Ihnen!

***

Eingestanden sind Sie stets für ein gerechteres Deutschland, für eine tolerante Gesellschaft ohne Fremdenhass, ohne Vorurteile.

Dass der Weg noch weit ist, macht uns der NSU-Prozess nur zu deutlich.

Auch die Aufmärsche jener, die mit dumpfen Parolen gegen alles vermeintlich Fremde auf die Straße ziehen, sie zeichnen ein beschämendes Bild. Ein Bild, das für mich nicht dem Deutschland entspricht, das ich kenne. Denn ein Großteil der Deutschen steht für ein anderes Deutschland: Ein weltoffenes Land! Ein tolerantes Land! Aber das zu wissen, reicht nicht aus. Dieser Teil Deutschlands muss den anderen, den Kleingeistigen, den Engstirnigen, den Geschichtsvergessenen sagen und zeigen: Hier in Deutschland ist kein Platz für Antisemitismus und Rassismus – nicht für den in Springerstiefeln, aber auch nicht für den der Biedermänner!

Ihr Engagement und Ihr Mut, liebe Frau Dr. Süssmuth, ist uns dabei Beispiel und Ansporn. Sie haben uns, Deutschen und Türken, das vorgelebt, was in einem türkischen Sprichwort so wunderbar auf den Punkt gebracht ist:

„Insan Insana lazim olur.“

Wir brauchen einander, um Gutes zu schaffen. Das ist der Ansporn, der von Ihrem Beispiel ausgeht, liebe Frau Süssmuth!

Herzlichen Glückwunsch zu diesem besonderen Preis!

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