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„Wir dürfen weder in Hysterie noch in Schockstarre verfallen“

28.06.2016 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen (28.06.2016) zu Situation nach dem britischen EU-Referendum.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen (28.06.2016) zu Situation nach dem britischen EU-Referendum.

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Sie haben die Außenminister der EU-Gründungsmitglieder zu einer Brexit-Konferenz eingeladen - und sind dafür kritisiert worden. Betreiben Sie eine Neben-Außenpolitik, Herr Steinmeier?

Wir müssen jetzt alles tun, um unser Europa zusammenzuhalten und uns das Europa, das wir nach dem Krieg in mehr als 60 Jahren so erfolgreich gebaut haben, nicht kaputt machen zu lassen. Und dürfen dabei weder in Hysterie noch in Schockstarre verfallen. Jammern und Wehklagen wird nicht helfen. Was es jetzt braucht, sind Gespräche, in denen man einander zuhört, und Beratungen über Ideen und Vorschläge, wie es mit Europa jetzt weitergehen kann. Das tue ich, und zwar mit vollem Engagement.

Ist der Kreis Ihrer Gesprächspartner dafür nicht zu klein?

Am Freitag haben wir uns im Kreise aller Mitgliedstaaten im Rat in Luxemburg beraten, Samstag mit den Außenministern der Gründungsstaaten und den baltischen Staaten, am Montag mit den osteuropäischen Visegrad-Staaten in Prag.

Ich hatte unzählige bilaterale Kontakte, allen voran mit meinem polnischen und slowakischen Kollegen. Die Slowakei übernimmt Ende der Woche turnusmäßig den Ratsvorsitz und ist deshalb ein besonders wichtiger Gesprächspartner. Wenn das alles ein Außenminister nicht tun soll, dann brauchen sie keinen in Deutschland.

Viele Briten scheinen ihr Votum für einen EU-Austritt zu bereuen. Ist der Brexit unumkehrbar?

Außenpolitik ist kein Wunschkonzert, in dem man sich das Lied aussuchen könnte, das die eigenen Befindlichkeiten und Gefühle am besten wiedergibt. Wir haben sehr für den Verbleib geworben, aber das britische Volk hat entschieden. Das ist das Faktum, mit dem wir jetzt umgehen müssen. Der nun denklogisch und politisch nächste Schritt muss es sein, dass die politisch Verantwortlichen auf der Insel den Willen ihres Volkes umsetzen, indem sie Austrittsverhandlungen einleiten, und zwar so schnell wie möglich, ohne uns in eine Hängepartie und eine lange Phase der Unsicherheit zu bringen.

Nach einer solchen Phase sieht es jetzt aber aus.

Es ist unübersehbar, dass das britische Volk gespalten ist und die britische Politik jetzt nach dem Referendum starken Verwerfungen ausgesetzt ist. Wir müssen bei all dem ganz besonders darauf achten, dass das Europa der 27 keinen weiteren Schaden nimmt. Deshalb habe ich mit meinem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault am Wochenende ein Ideenpapier auf den Tisch gelegt, mit unseren konkreten Vorschlägen, wie wir uns die nächsten Schritte vorstellen könnten. Darüber und über die Ideen, die andere haben, reden wir jetzt.

Ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten das Gebot der Stunde?

Die Krise Europas hat doch weder mit dem Austritt Großbritanniens angefangen noch wäre sie dadurch beendet. Wirtschafts- und Finanzkrise, Jugendarbeitslosigkeit, Wachstum, Flüchtlingsströme, innere und äußere Sicherheit: Die Liste der Schlagwörter wichtiger europäischer Themen ist lang. Auch diesseits des Ärmelkanals, im Übrigen auch bei uns in Deutschland, gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie es mit dem europäischen Einigungsprojekt weitergeht.

Ich bin überzeugt, dass unsere gemeinsame Zukunft in einem vereinten Europa am besten gesichert ist. Wir müssen Europa zusammenhalten. Dafür muss Europa sich weiterentwickeln und Handlungsfähigkeit zeigen. Nur wenn wir zeigen, dass Europa liefert, und zwar genau da, wo die Menschen am meisten der Schuh drückt, werden wir wieder mehr Vertrauen in das gemeinsame Projekt Europa zurückgewinnen.

Heißt konkret?

Das kann bedeuten, dass einige Staaten, wie Deutschland und Frankreich und Gleichgesinnte, miteinander die Zusammenarbeit intensivieren wollen, und gleichzeitig andere da erst einmal zurückhaltender sind. Mit dieser Spannung müssen wir ehrlicher umgehen als bisher. Das heißt: Nicht alle Staaten müssen bei allen Integrationsschritten mitmachen.

Wir wollen aber sicher nicht hinter das Erreichte zurückfallen. Wir können uns deshalb eine zukünftige Europäische Union vorstellen, die eine stärkere Differenzierung zulässt. Wichtig ist, dass die Tür für diejenigen Partner, die weitere Integrationsschritte nicht oder noch nicht mitgehen können, immer weit offen sein muss.

Interview: Jochen Gaugele. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen Allgemeinen.

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