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Rede von Staatsminister Michael Roth anlässlich des 70. Jahrestages der Auflösung des sogenannten Zigeunerfamilienlagers Auschwitz-Birkenau

02.08.2014 - Rede

---- Es gilt das gesprochene Wort ---

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Januar 2011 hielt der niederländische Sinto Zoni Weisz im Deutschen Bundestag eine beeindruckende Rede zum „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“. Zoni Weisz beschrieb den dramatischen Moment, als seine Eltern, seine Geschwister und weitere Verwandte im April 1944 mit dem so genannten „Zigeunertransport“ hier in dieses Lager nach Ausschwitz-Birkenau deportiert wurden – und er selbst nur durch eine glückliche Fügung des Schicksals zurückblieb. Zoni Weisz überlebte, seine Familie sah er nie wieder.

Zoni Weisz sprach vom „vergessenen Holocaust“ an den Roma und Sinti in Europa. Auch ich frage mich, warum dem Schicksal der Roma und Sinti in der Zeit des Nationalsozialismus in der breiten Öffentlichkeit bis heute so wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Auch deshalb bin ich als Vertreter der deutschen Bundesregierung heute an diesem ganz besonderen Tag der Trauer und des Gedenkens zu Ihnen gekommen. Ich bin gekommen, um zuzuhören und innezuhalten. Ich bin gekommen, um zu versuchen zu begreifen, welches unfassbare Leid unschuldigen Menschen hier an diesem Ort widerfahren ist. Ich bin gekommen, um mit Ihnen gemeinsam darüber nachzudenken, welche Lehren für die Zukunft wir aus diesen furchtbaren Verbrechen ziehen können.

Heute vor 70 Jahren wurde das so genannte „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Zwischen Februar 1943 und August 1944 wurden insgesamt 23.000 Roma und Sinti nach Ausschwitz-Birkenau deportiert.

Mehr als 19.000 von ihnen starben – sie erlagen der Mangelernährung, Seuchen und Krankheiten oder wurden grausam in den Gaskammern ermordet.

Doch Zahlen können nicht ansatzweise beschreiben, welch unermessliches Leid an diesem Ort von Deutschen und in deutschem Namen begangen wurde. Das Unfassbare wird für uns Spätgeborene vielleicht etwas begreifbarer, wenn ich sehe, dass heute unter Ihnen auch einige überlebende ehemalige Häftlinge sind. Durch Ihre Erinnerungen und Geschichten verwandeln sich abstrakte Opferzahlen in die vielen tief berührenden Einzelschicksale der Menschen, die hier ihr Leben gelassen haben oder für den Rest des Lebens traumatisiert wurden.

Sie sind heute an den Ort zurückgekehrt, der oft stellvertretend für den unfassbaren, systematisch betriebenen Völkermord der Nationalsozialisten genannt wird.

An einen Ort, an dem Ihnen selbst so viel Leid und Schmerz zugefügt wurde, aber auch an einen Ort, an dem Sie und Ihre damaligen Mithäftlinge mutig gegen dieses Leid aufbegehrt haben. Vor Ihrer Stärke, an diesen Ort zurückzukehren, zu gedenken und zu erinnern, habe ich großen Respekt. Und ich danke Ihnen, dass wir uns an diesem Ort gemeinsam erinnern und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken wollen.

Für mich ist das weder eine Selbstverständlichkeit noch eine leichte Übung. Denn unabhängig davon, dass meine Generation nicht in unmittelbarer Schuld zu den deutschen Gräueltaten steht, tragen wir Deutschen – ob jung oder alt – eine besondere Verantwortung.

Wir bekennen uns zu den grausamen und menschenverachtenden Verbrechen, die hier und an vielen anderen Orten von Deutschen begangen wurden.

Wir wollen uns nicht des Vergessens, des Relativierens oder gar des Leugnens schuldig machen. Das sind wir allen Opfern des Nationalsozialismus, auch den europäischen Roma und Sinti, schuldig.

Zoni Weisz schloss seine Rede im Deutschen Bundestag im Januar 2011 mit folgenden Worten: „Ich habe […] die Hoffnung […], dass unsere Lieben nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen ihrer auch künftig gedenken, wir müssen auch weiterhin die Botschaft des friedlichen Miteinanders verkünden und an einer besseren Welt bauen – damit unsere Kinder in Frieden und Sicherheit leben können.“

Zoni Weisz bringt damit zum Ausdruck, dass das Erinnern, das Gedenken eben nicht den Blick auf die Vergangenheit verengt, sondern den Blick für die Zukunft weitet. Zukunft braucht eben auch die Erinnerung!

Und unsere gemeinsame Zukunft liegt in einem friedlichen, toleranten und weltoffenen Europa. Das europäische Friedensprojekt hat sich in besonderer Weise der Vielfalt und dem Schutz von Minderheiten verschrieben. Dies ist ein entscheidender Pfeiler unseres europäischen Wertefundaments.

Die Stärke und Souveränität unserer freiheitlichen, inklusiven Gesellschaften zeigt sich insbesondere darin, dass Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft ebenbürtig leben, respektiert werden und sich in ihr gleichberechtigt entfalten können – ohne die Achtung ihrer eigenen Kultur zu verlieren und ohne ihre eigenen Wurzeln zu leugnen.

Der ehemalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau erinnerte in Berlin vor zehn Jahren in einer Rede nicht nur an den Aufstand der Roma und Sinti im Lager Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944.

Er legte den Finger in eine Wunde, die auch heute noch klafft und schmerzt. 2014, siebzig Jahre nach der Auflösung des so genannten „Zigeunerlagers“ müssen wir feststellen: Noch immer lebt eine große Anzahl von Roma und Sinti in tiefster Armut, wird diskriminiert und zum Teil verfolgt – und das mitten in Europa.

Fremdenhass, Rassismus und Homophobie sind mitnichten Probleme von gestern, sie sind auch heute noch tief in unseren Gesellschaften verwurzelt. Der vielerorts offenen Diskriminierung und Stigmatisierung von Roma und Sinti müssen wir noch viel entschiedener entgegen treten als bislang, sie hat in Europa schon viel zu lange gewütet. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Mitbürgerinnen und Mitbürger ohne Perspektive in ärmsten Verhältnissen und von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen leben.

Die Europäische Union nimmt diesen Zustand nicht tatenlos zur Kenntnis. Im Jahre 2011 setzte die Europäische Kommission einen Prozess in Gang, der auf einen Wandel hoffen lässt. Eine Roma-Strategie wurde beschlossen, die die Inklusion von Roma und Sinti in Wirtschaft und Gesellschaft weiter in den Vordergrund gerückt hat. Seitdem berichten die Mitgliedstaaten regelmäßig über die Fortschritte.

In Brüssel fand im April dieses Jahres bereits der dritte EU-Roma-Gipfel statt, der sich mit der aktuellen Situation von Roma und Sinti in den 28 Mitgliedstaaten befasste. 500 Vertreterinnen und Vertreter von EU-Institutionen, nationalen Regierungen und Parlamenten, Gemeinden und zivilgesellschaftlichen Organisationen kamen zusammen.

All diese Bemühungen sind der Anfang eines langen, steinigen Wegs des Wandels, der aber jede Mühe lohnt.

Die Probleme der Inklusion von Roma und Sinti sind vielschichtig und von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. Und alle Beteiligten stehen in der Pflicht: Von Wohnraum, öffentlicher Infrastruktur über Gesundheitsversorgung bis zur Teilhabe an Bildung und Arbeitsmarkt gibt es vieles anzupacken.

Was mich noch hoffnungsfroher stimmt als politische Strategien sind die Begegnungen und Gespräche mit Jugendlichen. Gestern hatte ich die Gelegenheit, in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim mit jungen Erwachsenen aus Deutschland, Polen und der Gruppe der Roma und Sinti zu sprechen. Ein Teil von ihnen befasst sich diese Woche in einem Seminar mit der Entrechtung und Ermordung von Roma und Sinti zur Zeit des Nationalsozialismus sowie mit ihrer heutigen Lebenswirklichkeit als gesellschaftliche Minderheit. Projekte mit Jugendlichen tragen in besonderer Weise dem Gedenken und der Überwindung von Vorurteilen und Ausgrenzung Rechnung. Deshalb liegen sie mir ganz besonders am Herzen.

Wenn wir uns hier an diesem Ort der Erinnerung die Zeit zum Gespräch, zum Kennenlernen und Mahnen nehmen, bin ich zuversichtlich, dass wir in ganz Europa den Blick dafür schärfen, dass Roma und Sinti nicht Außenseiter, sondern vielmehr Teil unserer Gesellschaft, ja unserer europäischen Identität sind. Diese Vielfalt in Europa nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung zu begreifen, sich zu vergegenwärtigen, dass wir seit Jahrhunderten gemeinsam in Europa leben, das ist die Hürde, die ich mit Ihnen gemeinsam nehmen möchte.

Vielleicht kennen Sie den Roman von Anja Tuckermann „Denk nicht, wir bleiben hier“? Die Botschaft dieses berührenden Buches möchte auch ich mir zu eigen machen: Lassen Sie uns gegen das Vergessen reden! Denn wir können zwar nichts ungeschehen machen. Aber wir können gemeinsam daran arbeiten, dass sich das Unrecht, das hier und an vielen anderen Orten geschehen ist, niemals wiederholt, damit wir gemeinsam unsere Zukunft in Europa gestalten können.

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