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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Ausstellungseröffnung „Gespaltene Erinnerung“ in dem Makedonischen Museum für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki

04.12.2016 - Rede

--- Es gilt das gesprochene Wort ---

„Die Zeit der Gräuel

ist keine Zeit für Dichtung.

Wenn man darangeht

etwas zu schreiben

ist es,

als würden von der anderen Seite

Todesanzeigen geschrieben.

Darum sind meine Gedichte so bitter

und sind – das vor allem –

auch nur so wenige.“

Lieber Nikos Kotzias,

Verehrte Ministerin Koniordou,

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Boutaris,

verehrte Initiatoren dieser Ausstellung,

liebe Gäste,

Erinnerung kann wehtun. Das wissen wir Deutsche. Und das ist auch in Griechenland spürbar, gerade hier in Thessaloniki. Ich habe eben aus einem Gedicht von Nikos Engonopoulos aus dem Jahr 1948 vorgelesen. Es lässt uns erspüren, wie schwer es ist, Worte für das Vergangene zu finden, und Zugänge zu legen für die Erinnerung.

Wir eröffnen heute eine Ausstellung mit dem Titel: „Gespaltene Erinnerung“. Diese Ausstellung versucht das zu tun, womit auch unser Dichter kämpft: sie legt die Vergangenheit frei - besonders dort, wo wir keine oder nur verschwommene oder gar widersprüchliche Erinnerungen haben.

Dort, wo unsere blinden Flecke liegen, leuchtet sie die Vergangenheit aus.

Die Ausstellung nimmt das „finstere Jahrzehnt“ der griechischen Geschichte von 1940 – 1950 in den Blick; sie zeigt, welche Geschichtsbilder sich überlagern, und bisweilen auch in Konkurrenz zueinander treten.

In unserem deutschen Blick steht dabei unverrückbar eine Erinnerung im Vordergrund, und das sind die Jahre der Besetzung Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht. Wir Deutschen wissen um die politische und moralische Verantwortung für die Gräueltaten in Griechenland. Sie haben tiefen Spuren hinterlassen.

Auch diese Spuren können wir hier im Museum wiederfinden. Direkt hinter mir an der Wand sehen Sie eine Reihe von Fotos, Aufnahmen in schwarz-weiß, umrahmt von schwarzer Pappe. Auf den Fotos sind Kinder zu sehen, und je genauer man hinschaut, desto schwerer fällt es einem. Man sieht Kinder, die leiden, die vor Kraftlosigkeit kaum noch aufrecht stehen können, die kurz vor dem Verhungern sind. Die Fotos stammen aus der großen Hungersnot in Griechenland während der Besatzungsjahre 1941 bis 1942. Diese Fotos geben den Schrecken der Hungersnot ein Gesicht, sie lichten den Nebel der Anonymität. Das ist nur möglich, weil damals mutige Griechen, allen voran Voula Papaioannou, trotz strengsten Verbots der deutschen Besatzer und trotz Materialknappheit – denn die lokale Kodak-Fabrik war zerstört worden – die Grausamkeit per Kamera dokumentiert haben. Und nicht nur das: Frau Papaioannou hat die Fotos außer Landes geschmuggelt, um die Welt zu alarmieren. Nach dem Krieg hat sie die Aufnahmen dann in einem Album aus schwarzer Pappe zusammengestellt, ihrem „Schwarzen Album“, das Sie heute hier sehen.

***

Der Erinnerung ein Gesicht geben. Das gilt auch für ein anderes Kapitel der Geschichte, dessen Ausmaß in Zahlen allein kaum zu begreifen ist: 96%. 50 000. Das sind zwei nüchterne Zahlen, die in sich den ganzen Hass und Wahn tragen, mit dem das Nazi-Regime hier in Thessaloniki gewütet hat. 96% der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis wurde in Ausschwitz und anderen Vernichtungslagern umgebracht. 50 000 Menschen. 50 000 Individuen mit Geschichten, Träumen und Ängsten. Auch ihnen will diese Ausstellung Gesichter zurückgeben. Hier finden wir Erinnerungen an diese Menschen und wir sehen, wo und wie jüdisches Leben hier in Thessaloniki war. Lassen Sie mich Ihnen noch eine letzte Zahl nennen: 1200. Das ist die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde heute. Ich freue mich sehr, dass ich im Anschluss an diese Eröffnung die Synagoge von Thessaloniki besuchen darf, und Zeuge davon werde, dass es in dieser Stadt heute wieder ein vielfältiges jüdisches Leben gibt.

***

Meine Damen und Herren,

Sie mögen mich fragen: Was haben all diese Erinnerungen mit dem Heute zu tun? Warum sehen Sie hier zwei Außenminister, den griechischen und den deutschen, bei der Eröffnung einer Geschichtsausstellung? Haben Sie nichts Dringendes, Aktuelles zu tun?

Ja, natürlich, es gibt Dringendes zu tun, vor allem für unsere Europäische Union.

Europa ist bedroht. Von wachsenden Fliehkräften im Inneren und von außen durch Konflikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Und wie in einem Brennglas kommen diese Bedrohungen hier in Ihrem Land zusammen. Ob Finanzkrise, Flüchtlingskrise oder die schwierigen Beziehungen zur Türkei – keine europäische Krise der letzten Jahre, die Griechenland nicht direkt getroffen hätte. In meinem Land, so kommt es mir manchmal vor, hat das noch nicht jeder verstanden. Noch wichtiger aber: In all diesen Jahren haben die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands immer fest zu Europa gestanden. Zu leichtfertig wurde – auch in meinem Land – in den letzten Jahren vom Ausschluss Griechenlands aus der gemeinsamen Währung oder aus dem Schengenraum gesprochen. Ich würde mir umgekehrt wünschen, dass so manch anderer europäischer Partner heute so unbeirrt zum Europäischen Einigungswerk stehen würde wie Sie hier Griechenland!

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Wir leben in Krisenzeiten. Und in Krisenzeiten treten existenzielle Fragen an die Oberfläche, die in ruhigen Zeiten verborgen schlummern: Identitätsfragen, Sorgen, Ängste – und eben auch: die langen Schatten der Vergangenheit!

Wie lang diese Schatten sind, auch im griechisch-deutschen Verhältnis, das dürfte in den letzten Jahren ja Keinem verborgen geblieben sein.

Ich erinnere an die Auseinandersetzungen in der Finanzkrise, als deutsche Zeitungen von sogenannten „faulen Griechen“ schrieben oder als griechische Zeitungen deutsche Politiker in die Nähe von Nazis rückten. Es liegt viel Sprengstoff in der Vergangenheit, und nur eine bewusste und ernsthafte Beschäftigung mit der Vergangenheit kann diesen Sprengstoff entschärfen. Ja, das kostet viel Mühe.

Ich bin froh und dankbar, dass die Initiatoren dieser Ausstellung sich diese Mühe gemacht haben: Griechen und Deutsche haben diese Ausstellung gemeinsam konzipiert und umgesetzt.

Herr Zacharopoulos, Frau Flacke, Herr Hekimoglu, Herr Panes: Ich glaube, sie erweisen mit dieser Erinnerungsarbeit unseren Beziehungen einen großen Dienst. Denn ich bin sicher: Griechen und Deutsche begegnen sich anders, wenn sie das im Bewusstsein der gemeinsamen Geschichte tun. Wenn sie ein Sensorium entwickeln für die wunden Punkte und die blinden Flecken der Vergangenheit. Und umgekehrt werden sie auch positive Verbindungen entdecken, die allzu oft nicht sichtbar sind: etwa die Jahrhunderte alte Sehnsucht vieler Deutscher nach der antiken Kultur Ihres Landes, nach seinen Küsten und Inseln – und nach seiner Sonne (die aber heute weder hier noch in Berlin scheint). Oder ich denke an die zahllosen Bande, die von Griechenland nach Deutschland geknüpft wurden, in den schweren Zeiten der Militärdiktatur, gerade hier aus dem Norden des Landes heraus. Ein Beispiel sitzt hier in der ersten Reihe: Mein Freund Nikos Kotzias hat lange in Deutschland gelebt und studiert, in derselben Stadt, an derselben Universität wie ich selbst. Aber am Ende arbeiten wir natürlich nicht nur deshalb eng und freundschaftlich zusammen, weil wir in denselben Studentenkneipen gesessen haben, sondern weil wir beide in jetziger Funktion um unsere gemeinsame Verantwortung wissen: gerade weil unsere Länder über eine tragische Geschichte miteinander verbunden sind, müssen wir für eine gemeinsame Zukunft von Deutschland und Griechenland arbeiten, die Entfremdung oder gar Feindschaft zwischen unseren Völkern nie wieder zulässt.

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Meine Damen und Herren,

Europa ist reich an Geschichte, aber es ist genauso reich an Zukunft! In diesen Krisenzeiten, in denen die Wogen hochschlagen, wünsche ich mir für Europa noch viel mehr der gemeinsamen Erinnerungsarbeit, so wie diese Ausstellung sie leistet. Denn ein Europa, in dem der bewusste Umgang mit Erinnerung zur politischen Kultur gehört, ist besser gewappnet für die Stürme unserer Zeit.

Mein Land, Deutschland, hat nach dem Zweiten Weltkrieg lange damit gerungen, sich seiner eigenen Geschichte und seiner Schuld bewusst zu werden. Und immer noch liegen viele Kapitel im Dunkeln – diese Ausstellung bringt jedenfalls weiteres Licht hinein. Und das ist gut so. Denn mit der Bereitschaft, Verantwortung für die eigene Geschichte anzunehmen, wächst auch die Kraft, die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen – sich nicht als Objekt der Geschichte sondern als Akteur zu begreifen.

Ich sehe in Griechenland einen solchen Akteur; einen Partner, der bereit ist, Verantwortung anzunehmen. Ganz konkret und aktuell zum Beispiel in der Lösung der Zypernfrage. Wir werden morgen in Athen darüber beraten, lieber Nikos. Hier scheint es eine Chance auf einen historischen Fortschritt zu geben. Griechenland spielt dabei eine entscheidende Rolle - mit dem Wissen um die Geschichte, aber den Blick fest auf die Zukunft gerichtet. Griechenland –das will ich deutlich sagen- ist in den Augen Deutschlands ein unverzichtbarer Akteur in und für Europa!

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Meine Damen und Herren,

Ich habe mit dem Schmerz der Erinnerung begonnen. Ich will enden mit der Hoffnung. In dem Gedicht von Nikos Engonopoulos haben wir gespürt, wie schwer ihm jede einzelne Zeile gefallen sein muss… Heute können wir dankbar sein, dass er sie geschrieben hat! Er, mit seinem Gedicht, und alle anderen, deren Kunstwerke und Erinnerungsstücke in dieser Ausstellung versammelt sind, haben uns Nachgeborenen ein Geschenk gemacht. Sie geben uns die Chance, bewusster, feinfühliger miteinander umzugehen, mit mehr Raum für Zwischentöne und vor allem mit einem klaren Blick, auf das was uns verbindet.

Ich würde mich sehr freuen, wenn diese Ausstellung, in einer so wundervollen Kooperation zwischen Griechen und Deutschen entstanden, dazu einen Anstoß geben könnte. Herzlichen Dank!

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