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„Die Umstände und Ursachen des Absturzes müssen schnellstmöglich aufgeklärt werden“

18.07.2014 - Interview

Außenminister Steinmeier im Interview mit Spiegel Online zum Absturz eines malaysischen Flugzeuges über der Ukraine, der Lage in der Ukraine, der Lage in der Ukraine und im Nahen Osten und den transatlantischen Beziehungen. Erschienen am 18.07.2014.


Herr Steinmeier, ein malaysisches Passagierflugzeug ist über der Ukraine mutmaßlich abgeschossen worden. Droht die Lage dort, völlig außer Kontrolle zu geraten?

Es ist entsetzlich, dass Hunderte völlig Unbeteiligte auf diese furchtbare Weise ums Leben gekommen sind. Rettungs- und Sicherheitskräfte brauchen jetzt sofortigen Zugang zur Absturzstelle. Die Umstände und die Ursachen des Absturzes müssen schnellstens aufgeklärt werden, dafür sollte eine unabhängige internationale Untersuchung aufgenommen werden.

Die Kämpfe in der Ukraine gehen unvermindert weiter. Sehen Sie noch Aussichten auf eine friedliche Lösung?

Ich habe die Ukraine-Krise auch in den vergangenen zwei Wochen nicht eine Sekunde lang aus den Augen verloren. Die Außenminister Russlands, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands haben Anfang Juli in Berlin eine Vereinbarung über einen Weg hin zu einem Waffenstillstand getroffen. Da sind wir leider immer noch nicht. Jetzt wird über den Ort gestritten, an dem sich Kontaktgruppe und Separatisten treffen. Wir setzen unseren Kurs fort: Klare Ansagen an die Konfliktparteien, wenn nötig begleitet mit Druck, aber unter Wahrung von Verhandlungsmöglichkeiten. Für eine Lösung führt kein Weg an einem Waffenstillstand vorbei. Ich werde weiter dafür arbeiten, dass die Waffen schweigen. Nur das eröffnet den Weg zu einer politischen Lösung, die wir brauchen.

Ist die Gefahr einer russischen Intervention gebannt?

Eine weitere Eskalation ist nicht ausgeschlossen, die Lage ist weiter brandgefährlich. Die Kämpfe im Donbass gehen mit unverminderter Härte weiter, jeden Tag sterben Menschen.

In der Ukraine-Krise haben Sie persönlich eine führende Rolle unter den europäischen Außenminister eingenommen. Im aktuellen Nahost-Konflikt zwischen Hamas und Israel halten Sie sich zurück. Warum?

Ich komme gerade zurück aus dem Nahen Osten, deshalb keine Zurückhaltung, aber ich plädiere für Realismus. Im Nahen Osten dürfen sich die Europäer nicht vormachen, dass wir die USA ersetzen könnten. Wir können einen Beitrag dazu leisten, mit den Akteuren vor Ort zu eruieren, unter welchen Bedingungen eine Waffenruhe und hoffentlich irgendwann auch die Rückkehr zu Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung möglich sein werden. Aber die USA und die arabischen Nachbarn bleiben zentrale Akteure aller Friedensbemühungen. Wir werden das mit unseren Möglichkeiten unterstützen. Selbst wenn erste Bemühungen um einen Waffenstillstand noch nicht erfolgreich waren, worum es geht, ist jetzt die Logik des Militärischen zu durchbrechen.

Was heißt das?

Drei Kriege in fünf Jahren zeigen - der Status Quo im Gazastreifen ist nicht haltbar. Ich bin überzeugt - eine nachhaltige Lösung braucht zwei Elemente - der Gazastreifen darf nicht ein großes Waffenlager der Hamas und anderer Gruppen bleiben. Aber die Menschen in Gaza brauchen auch die Chance auf bessere Lebensbedingungen. Dafür muss die palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Abbas gestärkt werden. Hier ist auch Israel gefragt.

Kommen wir zu einem anderen Thema - die Spionageaffäre. Sie waren selbst einmal als Chef des Kanzleramts für die deutschen Geheimdienste verantwortlich. Wie sehr hat es Sie überrascht, dass der US-Geheimdienst in Deutschland Spione anwirbt, um die Regierung auszuforschen?

Dass ein befreundeter Staat mit geheimdienstlichen Methoden Mitarbeiter deutscher Behörden anwirbt, um Haltungen und Positionen der Bundesregierung zu ergründen, hätte ich so nicht erwartet.

Die Bundesregierung hat den obersten US-Geheimdienstler zur Ausreise aufgefordert. Ein harter Schritt: Rechnen Sie mit US-Gegenmaßnahmen?

Die damit verbundene politische Botschaft ist angekommen. Das konnte man auch in den US-Medien lesen und hören. Letztendlich muss es jetzt darum gehen, an einer Verbesserung der Beziehungen zu arbeiten und der Erosion von Vertrauen entgegen zu wirken. Verloren gegangenes Vertrauen wird man nicht von heute auf morgen wieder aufbauen können, es lässt sich auch nicht einfach par ordre du mufti anordnen. Wir streiten nicht über die Notwendigkeit von Nachrichtendiensten als solche - wir werden sie in einer Welt mit neuen Gefahren und steigenden Risiken auch für unsere Sicherheit brauchen. Aber: Es gibt über die Ausrichtung und Reichweite geheimdienstlicher Tätigkeiten zwischen uns Differenzen. Hier ist ein Bewusstseinswandel nötig.

Wird es noch weitere Enttarnungen von US-Agenten in Deutschland geben?

Das weiß ich nicht. Ich habe dazu jedenfalls keine Information.

Ihre Kabinettskollegen Innenminister Thomas de Maizière und Finanzminister Wolfgang Schäuble von der CDU haben die Enttarnung zweier mutmaßlicher Spione beim BND und im Verteidigungsministerium heruntergeredet, sie wurden als kleine Fische dargestellt. Ist das der richtige Umgang mit der Affäre?

Niemand redet die Sache klein. Mir ist allerdings die politische Ratio hinter dem Vorgehen der Amerikaner völlig schleierhaft - im Vergleich zu den Erkenntnismöglichkeiten, die eine solche geheimdienstliche Quelle bringen mag, steht das Risiko der Verärgerung von Freunden im Falle einer Enttarnung doch in keinem Verhältnis. Wir reden ständig mit den Amerikanern, es gibt auf allen Ebenen engste Kontakte und Beziehungen. Ich telefoniere mit John Kerry sicherlich mehrere Male im Monat, wir sehen uns regelmäßig, zuletzt am Sonntag in Wien. Andere tun das auch. Wir reden offen und ehrlich miteinander.

Aber einen Grund muss die Spionage bei Freunden haben. Was ist aus Ihrer Sicht die Motivlage der Amerikaner für die Schnüffelaktionen?

Das müssen Sie schon die zuständigen Leute in Washington fragen. Es ist von uns schwer zu beurteilen, ob es eine wirkliche Motivlage in der Politik gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Abschöpfung von Informationen Teil einer größer angelegten Strategie ist oder ob sich geheimdienstliche Aktivitäten ungebremst verselbständigt haben. Letzteres halte ich für gut möglich. So oder so: Der Schaden für die bilateralen Beziehungen ist da.

Kürzlich haben Sie US-Außenminister Kerry in Wien getroffen, dabei auch über die Spionageaffäre gesprochen. Wie hat er reagiert?

Der amerikanische Außenminister weiß, dass es Belastungen in unserem Verhältnis gibt. Er sieht auch, dass eine Aufklärung der geheimdienstlichen Aktivitäten dringend notwendig ist. John Kerry ist, wie ich, selbst nicht für die Nachrichtendienste und ihr Tun zuständig. Aber uns müssen die transatlantischen Beziehungen am Herzen liegen. Deshalb teile ich die Kritik an den geheimdienstlichen Aktivitäten der USA in Deutschland, warne aber davor, das enge Verhältnis zu Amerika für ersetzbar zu halten. Ein Blick in die Ukraine, nach Nahost, in den Irak, Syrien und Afghanistan zeigt uns, dass wir einander brauchen. Viele Konflikte lassen sich überhaupt nur mit einer engen transatlantischen Zusammenarbeit angehen. Dabei gilt - diese muss von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragen sein.

Was sollte Amerika nun konkret unternehmen?

Zunächst einmal sind die USA aufgefordert, an der lückenlosen Aufklärung der jüngsten Vorfälle mitzuwirken. Um die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen, muss aber noch mehr geschehen.

Zum Beispiel?

Ich halte es für dringend notwendig, dass die inneramerikanische Debatte über die Arbeit und Notwendigkeit von Spionagetätigkeiten nicht allein von den Diensten dominiert wird. Die Dienste haben ihre Binnensicht, außenpolitische Implikationen ihres Agierens sind ihnen zweitrangig. Hier ist die Politik gefragt, die Grenzen für geheimdienstliche Aktivitäten setzen muss. Auch darüber habe ich mit John Kerry gesprochen.

Sollte es ein No-Spy-Abkommen geben?

Es bringt nichts, wenn wir dieses Thema immer wieder neu aufrollen. Es geht um wesentlich mehr: um die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, die in den USA - auch wegen 9/11 - anders definiert wird als in einem Land, dass von vergleichbaren Katastrophen unberührt geblieben ist. Trotz der unterschiedlichen Erfahrungen müssen wir uns im digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts die Frage stellen, wie das „Right to Privacy“ vor staatlicher und wachsend auch privater Ausforschung sichern können. Das ist Gegenstand des transatlantischen Cyber-Dialogs, den wir vor wenigen Wochen in Berlin begonnen haben und mit Geduld und Zähigkeit weiter führen müssen.

Die Fragen stellten Roland Nelles und Severin Weiland. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Spiegel Online.

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