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Europa ist mehr als ein Markt

29.08.2014 - Interview

Gemeinsamer Beitrag von Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, und seinem tschechischen Amtskollegen Tomáš Prouza, Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten im tschechischen Regierungsamt. Erschienen in der Frankfurter Rundschau vom 29.08.2014.

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Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind heute so gut wie nie zuvor. Weniger gut steht es dagegen um das Verhältnis zwischen der EU und ihren Bürgern. Wie können wir das verlorene Vertrauen wieder zurückgewinnen? Der Binnenmarkt allein weckt keine positiven Emotionen oder ein starkes Gefühl europäischer Verbundenheit. Doch die EU ist weit mehr als nur ein gemeinsamer Markt: Sie ist eine Wertegemeinschaft, die auf der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechten beruht.

Václav Havel hat uns immer wieder daran erinnert: „Sind nicht diese Werte die wirklich wichtigen? Sind sie es nicht, die allem Übrigen eine Richtung geben?“ Vielleicht haben wir als überzeugte Europäer dies zuletzt nicht deutlich genug gemacht. Dieses Jahr des Gedenkens gibt uns die Gelegenheit dazu: Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben uns gelehrt, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand nicht auf dem Recht des Stärkeren beruhen, sondern erst durch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie möglich werden. Vor 25 Jahren wurde der Eiserne Vorhang, der Europa über Jahrzehnte in Ost und West teilte, von mutigen Menschen zu Fall gebracht. Sie sehnten sich nach Freiheit und Demokratie, sie wollten Teil der europäischen Wertegemeinschaft sein. Auch heute beobachten wir, dass die Anziehungskraft Europas auf unsere Nachbarschaft vor allem auf unseren gemeinsamen Werten beruht.

Vor zehn Jahren ist die Tschechische Republik der EU beigetreten – mit allen Rechten und Pflichten, die eine Mitgliedschaft mit sich bringt. Heute können wir sagen: Der Weg zum Beitritt war lang und steinig, aber er war jede Anstrengung wert. Doch auch heute ist unser gemeinsamer europäischer Weg kein gemütlicher Spaziergang. Einer der Stolpersteine ist das Erstarken der Euroskeptiker, die mit ihren billigen Parolen die öffentliche Debatte beherrschen, ohne sich um echte Lösungen für Europas Probleme zu bemühen. Negativismus ist zu einer attraktiven politischen Einstellung geworden.

Die neue Regierung in Prag hat deutlich gemacht, dass die Tschechische Republik jetzt und für immer ihren Platz im Herzen Europas hat. Das Land hat den Fiskalpakt unterschrieben und seine Ausnahmeregelung von der EU-Grundrechtecharta aufgegeben. Auch die tschechischen Bürger waren der ständigen EU-Kritik überdrüssig. Nur drei der 21 tschechischen Europaabgeordneten gehören einer europaskeptischen Partei an.

Doch gemeinsam haben wir noch viel zu tun. Wenn die europäische Wertegemeinschaft auf dem Spiel steht, ist es nicht wichtig, ob wir aus dem Westen oder Osten, aus einem großen oder kleinen Mitgliedstaat stammen. Wenn wir unsere Werte verteidigen wollen, erfordert das von jedem von uns vollen Einsatz.

Trotz unterschiedlicher Verfassungstraditionen besteht kein Zweifel, dass uns der Schutz unserer Grundwerte mehr am Herzen liegt als die technischen Vorschriften des Binnenmarkts. Durch überbordende Technokratie und Bürokratie entfernen sich Europa und seine Bürger voneinander. Unsere gemeinsamen Werte dagegen schweißen uns zusammen.

Daher müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir diese Werte konsequent einhalten und schnell reagieren, wenn sie in Bedrängnis geraten. Wenn wir nach innen und nach außen glaubwürdig bleiben wollen, dürfen wir nicht wegschauen, wenn unsere gemeinsamen Grundwerte in anderen Mitgliedstaaten missachtet werden. Die bestehenden Mechanismen haben sich als wenig wirksam und praktikabel erwiesen: Das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags bleibt ein politisches Tabu, auch die Vertragsverletzungsverfahren im Binnenmarktbereich sind wenig zielführend.

Die EU-Kommission hat kürzlich einen Vorschlag vorgelegt, wie wir die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie in der EU stärken können. Wir sind überzeugt, dass es an der Zeit ist, die systemischen Gefahren für den Bestand der Grundwerte in Europa offen und ehrlich anzugehen. Erst kürzlich hat die EU-Grundrechteagentur erschreckende Berichte über Antisemitismus oder Gewalt gegen Frauen veröffentlicht. In einigen Mitgliedstaaten haben wir besorgniserregende Verfassungskonflikte beobachtet.

Alle Mitgliedstaaten müssen ihre Hausaufgaben machen. Daher laden wir unsere Partner ein, die Debatte über einen neuen Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der Grundwerte fortzusetzen und eine konstruktive Rolle für den Rat und die Kommission auszuarbeiten. Wir wollen ein ausbalanciertes und nichtdiskriminierendes Umfeld für ein dialogorientiertes Verfahren schaffen. Alle Mitgliedstaaten müssen gleich behandelt werden, wenn Grundwerte in Gefahr sind.

Die italienische Ratspräsidentschaft kann bei der weiteren Ausgestaltung dieses politischen Prozesses auf unsere volle Unterstützung zählen. Ein deutliches Bekenntnis zu diesem Ziel in den Schlussfolgerungen des Rates wäre ein klares Signal des Aufbruchs. Ein solcher politischer Prozess ist aber weder ein Ersatz für nationale Mechanismen zum Schutz der Grundwerte noch eine starre Vorgabe für das, was wir unter Rechtsstaatlichkeit verstehen.

Aber ein solcher Prozess könnte uns daran erinnern, welch großes Privileg wir genießen, Bürger der Europäischen Union zu sein. Niemals dürfen wir unsere Werte relativieren und infrage stellen. Denn sie sind der Garant für unsere Zukunft!

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