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„Es gibt keine absolute Sicherheit“

20.07.2016 - Interview

Im Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters (19.07.2016) äußert sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Terrorismusbekämpfung, zur Rolle Deutschlands in der EU-Außenpolitik sowie zur Situation in Großbritannien und in den USA.

Der IS kommt militärisch in Syrien, Irak und Libyen immer mehr unter Druck – zugleich scheint der Terror weltweit immer mehr zuzunehmen, zuletzt mit dem Angriff am Montagabend in einem Zug außerhalb Würzburg. Wie passt das zusammen? Wie groß schätzen Sie die Gefahr eines großen Terrorangriffs in Deutschland und was sollte dagegen gemacht werden?

Die Anschläge der Vergangenheit haben gezeigt: Es gibt keine absolute Sicherheit. Terror schlägt völlig wahllos zu und kann jeden einzelnen von uns treffen. Fakt ist: Wir brauchen dringend eine ‎noch engere Zusammenarbeit der Polizei und der Sicherheitsdienste in Europa und einen besseren Informationsaustausch. International müssen wir weiter entschlossen gegen Terrorgruppen in Syrien und Irak vorgehen und eine Perspektive für die Menschen in den befreiten Dörfern und Städten schaffen. In diesem Bereich engagieren wir uns wie kein anderes Land. Auf lange Sicht können wir der Terrorgefahr aber nur begegnen, wenn wir Bedingungen schaffen, unter denen verschiedene gesellschaftliche und religiöse Gruppen friedlich zusammenleben - bei uns und in den Konfliktregionen des Mittleren Ostens. Mit kühlem Kopf müssen wir gegen die Wurzeln des Terrorismus angehen. Hier brauchen wir die Mitarbeit der muslimischen Gemeinden, die - wie ich aus vielen Gesprächen weiß - selbst ein ureigenes Interesse daran haben, dass junge Menschen der Gesellschaft eben nicht den Rücken kehren, um sich Terrorbanden anzuschließen. ‎Wichtig ist, dass wir nicht zulassen, dass Terroristen uns in die Enge treiben und ihren Krieg in unsere Herzen tragen.

Sollte Deutschland eine größere oder stärkere Rolle spielen in der EU-Außenpolitik und Sicherheitspolitik und ist das Land dazu gewappnet? Ist sowas möglich trotz des Widerstandes gegen eine Aufrüstung und des Ziels eines ausgeglichenen Haushalts? Oder muss der Haushalt massiv angekurbelt werden, um den neuen Bedingungen Gerecht zu werden?

Die Erwartungen an Deutschland sind gewachsen, ja! Und wir haben gezeigt, dass wir vor Verantwortung nicht zurückschrecken. Die sind wir eingegangen bei unseren Vermittlungsbemühungen im Ukraine-Konflikt, und wir stehen dazu auch in der NATO beim verstärkten Schutz unserer osteuropäischen Nachbarn im Umfeld einer veränderten Sicherheitslage nach der Annexion der Krim. Wir leisten Beiträge im Kampf gegen IS durch die Unterstützung der kurdischen Peschmerga und durch die Beteiligung an der Luftaufklärung über Syrien. Wir engagieren uns in der Ausbildung von Sicherheitskräften und im Wiederaufbau in Afghanistan und auch in Mali. All das wird von unseren Partnern respektiert und gewürdigt. Auch unsere Beteiligung auf der Suche nach politischen Lösungen in Syrien und Libyen wird gesucht. In einer Zeit der Krisen und Konflikte müssen wir unsere Anstrengungen erhöhen. Wir müssen aber auch kalkulieren, wo wir uns überfordern, wo wir Erwartungen nicht mehr gerecht werden können, wo unser Einsatz keinen Mehrwert hätte. Ich denke, wir haben zurzeit eine vernünftige Balance gefunden.

Die amerikanischen Kollegen erwarten mehr als $2 Milliarden für Irak? Reicht diese Summe aus, oder wäre noch mehr Geld erforderlich, um die Gefahr von IS zu unterbinden? Wie kann die Anti-IS-Koalition bei der Terrorismusbekämpfung helfen?

Im Irak ist es mithilfe internationaler Unterstützung gelungen, den IS aus einem Großteil seines Machtbereichs zurückzudrängen: Von Woche zu Woche werden Gebiete von seiner Terrorherrschaft befreit, zuletzt die Stadt Falludscha. Daran hat die Anti-IS-Koalition einen entscheidenden Anteil. Klar ist aber auch, dass diese Erfolge nur dann von Dauer sein werden, wenn die Menschen so schnell wie möglich in ihre Städte und Dörfer zurückkehren können. Deutschland leistet für humanitäre Hilfsmaßnahmen und Stabilisierung bereits mehr als jedes andere Land, aber das reicht nicht aus: Wenn die Großstadt Mosul von IS befreit wird, stehen uns gewaltige humanitäre, gesellschaftliche und politische Herausforderungen bevor – das hat die Befreiung von Falludscha gezeigt. Das Momentum unserer Bemühungen zur Stabilisierung des Irak darf jetzt nicht nachlassen! Ich habe deshalb entschieden, dass Deutschland noch einmal 10 Millionen Euro humanitäre Hilfe beisteuern wird, um besser auf die humanitären Folgen der Befreiung von Mosul vorbereitet zu sein. Und auch auf der Geberkonferenz in Washington, wo wir Mit-Gastgeber sind, werden wir dafür werben, die nötigen Mittel bekommen, um diese große Aufgabe zum Erfolg zu führen.

Wie sehen Sie die Lage Großbritanniens nach dem Amtsantritt von Frau May? Hat das die Märkte beruhigt und erwarten Sie nun schnelle Aktionen wegen Artikel 50?

Großbritannien hat eine neue Regierung, die ganz klar signalisiert hat, dass sie das Ergebnis des britischen Referendums akzeptiert und umsetzt. Diejenigen Persönlichkeiten, die sich für einen Brexit stark gemacht haben, sind jetzt in der Pflicht und Verantwortung, das auch umzusetzen. Ich glaube, dass wir jetzt auch erwarten können, dass die Briten möglichst rasch agieren, um die Phase der Unsicherheit - vor allem in Großbritannien, aber auch in Europa - zu beenden. Abgesehen von der Brexit-Diskussion werden wir angesichts der Konflikte rund um die Europäische Union, die wir zu lösen oder wenigstens abzumildern versuchen, alle Partner brauchen. Trotz Brexit werden wir in den internationalen Beziehungen – auch und gerade in diesen Krisenzeiten – eine Zusammenarbeit mit Großbritannien brauchen.

Wie schätzen Sie die jetzige Situation in den USA ein? Sehen Sie Parallelen zwischen dem Aufstieg Trumps und den nationalistischen Bewegungen in Europa?

Gerade diese krisengeschüttelte Weltlage mag dazu verleiten, einfache Lösungen zu suchen – das ist eine Entwicklung, die ich auf beiden Seiten des Atlantiks beobachte. Die Herausforderung liegt darin, in diesem komplexen Krisengebräu Lösungen zu suchen, die tauglich sind und die sich nicht auf einfache Parolen oder das Hochziehen von Mauern beschränken. Von Herrn Trump habe ich in dieser Hinsicht eher zweideutige Aussagen vernommen – er will Amerika einerseits wieder stark machen, andererseits aber das US-Engagement im Ausland reduzieren. Das ist widersprüchlich, und es macht mir Sorgen: Eine Politik der Angst und Abschottung würde nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bringen und wäre deshalb nicht nur gefährlich für die USA, sondern ebenso für Europa und den Rest der Welt.

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