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„Die EU muss gegenüber der Türkei weiterhin mit einer Stimme sprechen.“

08.11.2016 - Interview

Europa-Staatsminister Michael Roth im Interview mit der Welt zur aktuellen Entwicklung in der Türkei (08.11.2016).

Europa-Staatsminister Michael Roth im Interview mit der Welt zur aktuellen Entwicklung in der Türkei (08.11.2016).

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Die Türkei sperrt den Oppositionsführer und Journalisten ein, schließt Redaktionen, verhaftet Abgeordnete, entlässt Wissenschaftler, will die Todesstrafe einführen – und der Westen tut nichts. Oder?

Was derzeit in der Türkei geschieht, hat mit unserem Verständnis von europäischen Werten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Medienfreiheit nichts zu tun. Deshalb ist unsere Antwort gegenüber der türkischen Regierung auch glasklar: So nicht!

Aber ein deutliches Signal der Europäischen Union sieht anders aus. Liegt das daran, dass in einzelnen ihrer Mitgliedstaaten autoritäre Politiker à la Erdogan den Ton angeben?

Die EU muss gegenüber der Türkei weiterhin mit einer Stimme sprechen. Sie darf sich nicht spalten lassen. Die Türkei will schließlich weiterhin Mitglied der EU werden. Sie muss jetzt vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse erklären, wie das denn gelingen soll. Ankara weiß doch ganz genau: Mit der Einführung der Todesstrafe sind die Beitrittsverhandlungen mit der EU suspendiert.

Gab es nicht zeitweilig Hoffnung, das Thema Todesstrafe sei bald wieder vom Tisch?

Vor wenigen Wochen tauschte ich mich im Ministerkomitee des Europarats in Straßburg mit dem türkischen Außenminister aus. Er bekannte sich deutlich zu unseren europäischen Werten. Die Wiedereinführung der Todesstrafe gehört definitiv nicht zu diesen Werten. Jetzt muss der türkische Präsident sich entscheiden, ob er den europäischen Weg weiterverfolgt oder sich von Europa abwendet.

Am Mittwoch wird der sogenannte Fortschrittsbericht über die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei vorgestellt. Was erwarten Sie davon? Handelt es sich erstmals um einen Rückschrittsbericht?

Die EU-Kommission wird in der Tat einen negativen Bericht vorlegen, allerdings nicht zum ersten Mal. Schon der letzte Bericht fiel deutlich kritisch aus. Die EU-Kommission wird sehr nüchtern, sehr klar und sehr kritisch bilanzieren, was in der Türkei schlecht – oder gar nicht – läuft. Das ist leider sehr viel.

Nüchternheit ist gut in der Politik. Aber welche roten Linien darf die türkische Regierung noch überschreiten, damit die EU die Verhandlungen mit Ankara abbricht?

Der Ruf nach einem Ende der Beitrittsverhandlungen ist wohlfeil. Gespräche zu beenden ist leicht. Gespräche in dieser Zeit mit Ankara zu führen ist ungleich schwieriger. Gerade wir in Deutschland mit drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln sollten auf eine Fortsetzung der Gespräche drängen. Sonst lassen wir uns die Chance nehmen, mit unseren Gesprächspartnern offen, direkt und ehrlich umzugehen.

Ist der Ruf nach einem Ende der Verhandlungen nicht allzu berechtigt?

Aber wer wären denn die Leidtragenden, wenn die Gespräche nun komplett beendet werden würden? Ein solcher Schritt würde doch gerade die westlich orientierten Türken alleinlassen. Es gibt einen wesentlichen Teil der türkischen Gesellschaft, der immer noch proeuropäisch orientiert ist und der große Hoffnungen mit der EU verknüpft. Diese Menschen dürfen wir nicht enttäuschen, sie haben es in der Türkei schwer genug.

Ist es nicht ein Witz, wenn die EU mit einer Regierung über eine Mitgliedschaft verhandelt, die seit dem Putschversuch etwa 155 Redaktionen per Notstandsdekret geschlossen hat?

Die Verhandlungen laufen auch schlecht. Wir eröffnen keine weiteren Kapitel. Aber ich bleibe dabei: Die EU sollte sich nicht von der Türkei abwenden, das macht nichts in der Türkei besser, aber vieles schlechter.

Schafft die Türkei ihre parlamentarische Demokratie gerade ab?

Der Umgang mit Abgeordneten der Opposition im Parlament ist inakzeptabel. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sollte wissen: Es gilt die Stärke des Rechts, nicht das Recht des Stärkeren – das muss auch in der Türkei gelten.

Erdogan benutzt den ausgerufenen Ausnahmezustand, um sein Recht des Stärkeren zu zementieren.

Die Türkei hat das legitime Recht, den Putschversuch aufzuarbeiten, aber unter rechtsstaatlichen Kriterien. Ich bezweifle sehr, ob diese Maßstäbe bei der notwendigen Aufarbeitung angemessen angelegt werden.

Erdogan sagt, ihm sei es egal, ob er im Westen als „Diktator oder irgendetwas anderes“ bezeichnet werde …

Wir sollten die Türkei doch nicht auf einen Politiker reduzieren. Der Staatspräsident steht nicht für das ganze Land. Die Türkei ist bunt und vielfältig, auch Türkinnen und Türken sehen ihren Präsidenten teilweise sehr, sehr kritisch. Ich treffe in der Türkei regelmäßig vor allem junge Menschen, die weiter Teil unserer europäischen Wertegemeinschaft bleiben wollen.

Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sprach im Deutschlandfunk mit Blick auf die Türkei von „Methoden … die während der Nazi-Herrschaft benutzt wurden“.

Ich als Deutscher tue mich sehr schwer mit Gleichsetzungen mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte.

Was können Bundesregierung und EU tun, um die Freiheit von drangsalierten Oppositionspolitikern, Wissenschaftlern und Journalisten in der Türkei zu sichern?

Alle kritischen Geister in der Türkei sollen wissen, dass die Bundesregierung ihnen solidarisch beisteht. Auch im Auswärtigen Amt arbeiten wir gerade daran, wie wir das möglich machen können.

Woran denken Sie?

Es gibt bereits verschiedene Programme, die auch türkischen Wissenschaftlern und Journalisten offen stehen.

Ist Deutschland bereit, in der Türkei verfolgte Politiker, Journalisten, Künstler aufzunehmen?

Darüber entscheiden bei uns die zuständigen Behörden. Aber: Deutschland ist ein weltoffenes Land und steht allen politisch Verfolgten im Grundsatz offen. Sie können in Deutschland Asyl beantragen. Das gilt dezidiert nicht nur für Journalisten. Dafür gibt es unser Recht auf Asyl.

Ist die Visumfreiheit für die Türkei, eine Gegenleistung für den Flüchtlingsdeal der EU mit Erdogan, ein totgerittenes Pferd?

Da scheint es sich um ein großes Missverständnis zu handeln. Die EU konnte überhaupt nicht eine Visaliberalisierung als „Gegenleistung“ zum Flüchtlingsabkommen zusagen. Es müssen schlicht Kriterien erfüllt werden, die im Übrigen schon lange vor dem Abkommen klar waren. Viele Bedingungen sind erfüllt, einige wenige nicht, etwa die notwendige Reform der Terrorgesetze. So lange diese nicht reformiert sind, gibt es keine Visafreiheit.

Mit jenen umstrittenen Terrorgesetzen bekämpft Erdogan seine Gegner …

Ausnahmezustände sind zeitlich eng befristet. In einer Demokratie ist das jedenfalls so. Wir erwarten, dass der Ausnahmezustand bald wieder aufgehoben wird.

Vor dem Flüchtlingsdeal ist Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mehrfach in die Türkei gereist, um mit Erdogan zu sprechen. Ist ein solcher Besuch mit einer klaren Botschaft nicht heute dringender denn je?

Ich hätte mir gewünscht, manche wären früher und regelmäßiger in die Türkei gefahren. Deutschland hätte sein Interesse an einer europäisch gesinnten Türkei in der Vergangenheit deutlicher signalisieren müssen. Heute gibt es mehr denn je Fragen, die mit Ankara zu besprechen sind, nicht nur bei den Themen Flüchtlinge und Menschenrechte. Es wäre gut, wenn jede und jeder versucht, Einfluss zu nehmen.

Von der Kanzlerin erwarten Sie mehr als bisher?

Ich wünsche mir von uns allen in der EU mehr Interesse, mehr Dialog, mehr kritische Fragen. Und: Deutschland wird in Ankara ernst genommen. In der Türkei gibt es, zu Recht, zwei Wahrnehmungen. Erstens: Manche Europäer interessierten sich für sie erst, als es um das Flüchtlingsabkommen ging, da man auf die Türkei angewiesen war. Zweitens: Etwas mehr Solidarität und Mitgefühl mit der türkischen Bevölkerung nach dem Putsch wäre schon angebracht gewesen. Diese beiden Schuhe müssen wir uns anziehen.

Wann reisen Sie das nächste Mal in die Türkei?

Schnellstmöglich. Und ich erwarte, dass mich mein türkischer Amtskollege bald besucht. Angekündigt hat er das.

Herr Erdogan hat Deutschland als „sicheren Hafen“ für Terroristen bezeichnet. Nennt die Bundesregierung die Türkei im Gegenzug weiterhin einen „Partner“?

Unser Außenminister hat klar etwas zu dieser abwegigen Aussage von Herrn Erdogan gesagt.

Ist die Türkei für Sie noch Partner?

Die Türkei ist ein ganz schwieriger Partner.

Interview: Daniel Friedrich Sturm.

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