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Rede des Staatsministers für Europa, Michael Roth, anlässlich des Festaktes zur Verleihung des „Preises Frauen Europas“ an Linn Selle

26.01.2015 - Rede

--es gilt das gesprochene Wort--

Liebe Linn,
sehr geehrte Damen und Herren,

erst vor wenigen Wochen hast Du mich, liebe Linn, eingeladen, bei der Europa-werkstatt der JEF mit jungen Europäerinnen und Europäern zu diskutieren. Unter dem Hashtag „#Batterienaufladen“ habe ich dazu getwittert. Nach einer Woche voller Termine kann an einem Freitagnachmittag schon mal die Luft raus sein. Doch dank der inspirierenden Diskussion mit Euch durfte ich bei Eurer Veranstaltung sogar neue Energie tanken. Wir haben darüber gelacht, dass wir uns in einer „bubble“ von überzeugten Europäern austauschen, aber ganz ehrlich: Das tat auch mal gut, vor allem in diesen Zeiten, wo immer mehr Menschen am Sinn und Wert Europas zweifeln!

Dass Du Dir gewünscht hast, ich möge die Laudatio anlässlich der heutigen Preisverleihung halten, freut mich umso mehr. Auch weil es mir die Gelegenheit gibt, Dir etwas zurückzugeben und einige wenige Gedanken zu Europa zu teilen, die mich nicht nur als Staatsminister für Europa, sondern auch ganz persönlich als EU-Bürger bewegen.

Der Jury danke ich dafür, dass sie sich in diesem Jahr für eine junge Europäerin, ja sogar die jüngste in der Geschichte des Preises, entschieden hat. Ich bin sicher, das ist Anerkennung, Ansporn und Motivation zugleich.

Der EBD danke ich, dass es diesen Preis „Frau Europas“ überhaupt gibt. Es gibt zahlreiche europäische Auszeichnungen, aber Frauen zählen dann doch eher selten zu den Preisträgerinnen: Leider! Da macht Europa (noch) keinen Unterschied zu Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Beispielhaft sei der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen genannt: ihn haben bislang gerade mal vier Frauen erhalten, unter Ihnen Simone Veil und Königin Beatrix.

Es ist ein schönes Signal, mit der heutigen Auszeichnung der Preisträgerin nicht nur rückblickend Respekt und Anerkennung zu zollen, sondern sie auch für ihr weiteres Engagement zu motivieren.

Liebe Linn,

Du hast bereits als junger Mensch viel für Europa geleistet. Die meisten hier kennen Dich aus Deiner Zeit im Bundesvorstand der JEF oder als deren Bundessekretärin. Sicher wirst Du uns später selbst noch erzählen, was Dich immer wieder angetrieben hat und warum für Dich Europa eben nicht nur Brüssel, Berlin, Warschau oder Paris ist, sondern eben auch Havixbeck. Der Ort, an dem Du groß geworden bist und Dein Abitur gemacht hast. Ob als Austauschschülerin in der französischen Partnerstadt oder durch die Nähe zur deutsch-niederländischen Grenze – schon früh hast Du Europas Vielfalt kennengelernt.

Du bist ordentlich rumgekommen in Europa und hast viele Freundschaften geschlossen. Ich bin einige Jahre älter und blicke anerkennend und – ich gebe es offen zu – ein wenig neidvoll auf diese beeindruckenden durch und durch europäischen Lebensläufe, die noch in meiner Generation nicht ganz so selbstverständlich waren, wie sie es heute erfreulicherweise sind.

Wir wissen beide nur zu gut: Europa ist kein leichtes Geschäft, es verkauft sich nun wirklich nicht von selbst. Die wirtschaftlichen und finanziellen Verwerfungen in Teilen der EU haben zwar zu einer breiten öffentlichen Debatte über Europa beigetragen. Sie mündeten aber eben auch in eine tiefe Vertrauens- und Solidaritätskrise, die die Beziehung zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern auf eine harte Probe stellt. Immer mehr Menschen beginnen an diesem Europa zu zweifeln. Die Vorurteile nehmen vielerorts dramatisch zu, der Zusammenhalt wird in Frage gestellt. Das ist ein idealer Nährboden für nationale Rückzugsgefechte, die mittlerweile auch vor Deutschland nicht mehr Halt machen. Die AfD und Pegida lassen grüßen.

Vielfach ist die Rede vom fehlenden Narrativ für Europa. Dabei hat Europa doch so viele spannende und bewegende Geschichten zu erzählen. Wir müssen ihnen nur Stimme und Gehör schenken!

Junge Menschen wie Du haben die furchtbaren Kriege oder die Teilung unseres Kontinents glücklicherweise nicht miterlebt. Ihr kennt Europa nur in friedlichen Zeiten und mit offenen Grenzen. Eine Easy-Jet-Generation, die ganz selbstverständlich mit und in Europa aufgewachsen ist. Sie droht bisweilen aber aus den Augen zu verlieren, dass Europa unsere Lebensversicherung in den stürmischen Zeiten der Globalisierung und der Garant unserer ganz individuellen Lebensentwürfe ist.

Das alles macht es nicht leichter, für Europa einzustehen und die wachsende Zahl der Zweifler und Skeptiker von Europa zu überzeugen. Du hingegen, liebe Linn, lässt Dich nicht entmutigen. Wir haben es Dir, Deinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern beispielsweise zu verdanken, dass das TV-Duell im Vorfeld der Europawahl zwischen den Spitzenkandidaten Martin Schulz und Jean-Claude Juncker nicht nur auf dem Spartenkanal Phoenix zu sehen war, sondern von einem Millionenpublikum bei ARD und ZDF verfolgt werden konnte. Du bist in den sozialen Netzwerken umtriebig und nutzt Twitter und Facebook hoch professionell. Du mobilisierst und sensibilisierst Menschen mithilfe der neuen Medien für Europa. Bitte mehr davon!

Vermutlich teilen wir eine große Sorge, liebe Linn. Derzeit wird immer wieder mit anschwellendem Ton der fälschliche Eindruck erweckt, durch eine Befreiung vom „Brüsseler Joch“ würde Vieles besser werden. Als sei die Abkehr vom vereinten Europa geradezu ein Akt der Emanzipation, der uns zu freieren Bürgerinnen und Bürgern machte. Welch ein Irrtum! Das Gegenteil ist doch der Fall: Nur gemeinsam sind wir stark!

Wenn es darum geht, das Klima zu schützen, die Finanzmärkte zu regulieren, internationale Handelsströme zu steuern, oder effektiv, aber vor allem solidarisch und menschenwürdig, internationalen Flüchtlingsströmen zu begegnen – dann gelingt dies nur durch gemeinsames europäisches Handeln! Denn gerade bei diesen globalen Fragen stoßen doch die Nationalstaaten alter Prägung – im wahrsten Sinne des Wortes – an ihre Grenzen.

In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts kann selbst das vermeintlich so große Deutschland seine Interessen nur in und über Europa wahrnehmen und durchsetzen. Im globalen Maßstab sind wir alleine ein ziemlicher Zwerg! Nur ein geeintes Europa bietet uns die Chance, die Globalisierung in unserem Sinne zu gestalten und im Nationalstaat längst verloren gegangene Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmacht zurückzugewinnen, vor allem aber unseren Wohlstand zu sichern und unsere Werte zu schützen.

Ebenso wie der soziale Zusammenhalt als Hoffnungsversprechen zur EU gehört, machen uns im Inneren unsere gemeinsamen europäischen Werte stark. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt, der Schutz von Minderheiten sowie Presse- und Meinungsfreiheit – diese Werte sind das Markenzeichen der EU. Sie schweißen uns Europäerinnen und Europäer zusammen. Vielleicht haben wir im Zuge der Krise nicht immer deutlich genug gemacht: Die EU ist weit mehr ist als nur ein Binnenmarkt, eine Wirtschafts-und Währungsunion. Sie ist vor allem eine einzigartige Wertegemeinschaft.

Der Bestand dieser Werte ist auch in Europa keine Selbstverständlichkeit, sie müssen jeden Tag aufs Neue gepflegt und verteidigt werden. In einer EU, in der die Mitgliedstaaten auf so vielfältige Weise miteinander verbunden sind, gilt das klassische Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten nicht mehr. Im Gegenteil: Für mich gibt es sogar die Pflicht zur Einmischung!

Und vielleicht können wir dieser Tage, nach den schrecklichen Terroranschlägen in Frankreich, auch gemeinsam die Chance ergreifen, wieder näher zusammenzurücken, uns wieder mehr darauf besinnen, was uns eint, und nicht was uns spaltet.

Hierfür einzustehen braucht Solidarität, Mut, ein Fünkchen Zuversicht und auch mal ein bisschen mehr Emotion und Leidenschaft. Hierzu reicht es nicht aus, Europaexpertin oder Europaexperte zu sein. Denn wie wir in Europa leben wollen, wird sich nicht in Ministerien oder Hörsälen, sondern vor allem in den Herzen und auf den Marktplätzen entscheiden. Ja, wir brauchen Europäer der Herzen - so wie Dich, liebe Linn.

Europa lebt von seinen Bürgerinnen und Bürgern, einer vitalen Zivilgesellschaft mit Vereinen und Verbänden wie der JEF, die sich einmischen, mitmachen und der Politik auch mal den Spiegel vorhalten. Das ist ein wesentlicher Teil von gelebter Demokratie und Partizipation.

Brüssel sind eben nicht nur die anderen. Wir alle tragen Verantwortung für das vereinte Europa! Das wird allzu oft vergessen. Viel bequemer ist es, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben, wenn man selbst nicht bereit ist, für seine Entscheidungen einzustehen.

Auch Politikerinnen und Politiker neigen immer wieder dazu, die EU zum Sündenbock oder zum Feigenblatt zu machen. Das Gute kommt aus Berlin, Paris oder Warschau, das Schlechte hat die EU-Bürokratie in Brüssel zu verantworten. Dabei entscheiden die nationalen Hauptstädte in Brüssel fast immer mit.

Liebe Linn,

ich erinnere mich noch daran, dass vor einigen Jahren schon Fragen von Dir zur Europäischen Bürgerinitiative auf meinem Schreibtisch landeten. Damals kannten wir uns noch nicht persönlich. Ich war als Berichterstatter meiner Fraktion im Bundestag für die Europäische Bürgerinitiative zuständig, Du hast hierzu geforscht.

Die Europäische Bürgerinitiative ist sicher kein Allheilmittel, aber doch ein Erfolg und ein wichtiger Schritt, um die partizipative Demokratie in Europa zu stärken. Der Politik Beine machen, sie zu neuen Taten anspornen – das vermag sie allemal. Weder die Hauptstädte noch Brüssel können sich den europaweiten Debatten der Zivilgesellschaft versperren.

Für Dich ist es aber schon damals nicht beim Forschen geblieben. Du warst bereits in der JEF aktiv und hast Teilhabe und Demokratie gelebt. Du hast Verantwortung übernommen in einem Jugendverband und mitgestaltet anstatt wie so viele nur zu meckern. Das zahlt sich, wie wir heute sehen, aus. Du hast Dir diesen Preis wirklich verdient, liebe Linn.

Als streitbare Europäerin kenne ich Dich schon lange. Dich jetzt auch als Mitglied meiner streitbaren Partei zu wissen, ist wunderbar. Spare weiterhin nicht an Kritik an Europa, und auch nicht an unserer SPD, bleib weiter so vernehmbar wie bisher und bewahre Dir Deinen fröhlichen, hoffnungsvollen Blick auf das Leben und Europa.

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