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„Die Flüchtlingskrise wird uns noch viele Jahre beschäftigen“

16.08.2015 - Interview


Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Zeitung „Bild am Sonntag“ zur europäischen Flüchtlingspolitik, der Lage in Syrien sowie den jüngsten Entwicklungen in der Türkei und der Ukraine. Erschienen in der „Bild am Sonntag“ am 16.08.2015

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Herr Steinmeier, ein ganz normaler Urlaubstag im Leben des Bundesaußenministers: ISIS enthauptet eine kroatische Geisel, die Türkei verschärft ihre Offensive gegen die PKK, in der Ukraine wird wieder gekämpft, im syrischen Bürgerkrieg sterben Dutzende Menschen und in Europa kommen wieder Tausende Flüchtlinge an...

FRANK-WALTER STEINMEIER: Es wäre eine Illusion zu glauben, dass man sich vom Wüten der Welt auch nur für wenige Tage verabschieden könnte. Abschalten per Knopfdruck, das funktioniert nicht. Und ich habe auch in diesem Jahr wieder zweimal meinen Urlaub für Termine in Berlin unterbrochen. Aber es ist trotzdem gut, mal weg zu sein! Mir persönlich hilft das Bergsteigen, um Abstand zu gewinnen und ein wenig Kraft zu tanken. Hier ist im Kopf einige Stunden lang für nichts anderes Platz als für die nächsten zehn Schritte.

Deutlich mehr als eine halbe Million Flüchtlinge dürften in diesem Jahr nach Deutschland kommen. Kann unser Land die alle aufnehmen und vernünftig unterbringen?

Keine Frage: Die Flüchtlingsbewegungen sind eine der ganz großen Aufgaben unserer Zeit. Und ob wir es wollen oder nicht: Diese Krise wird uns noch viele Jahre beschäftigen. Schnelle Lösungen wird es nicht geben, da müssen wir auch gegenüber der eigenen Bevölkerung ehrlich sein. Was mich besonders freut und ehrlich gesagt auch rührt, ist, dass es in Deutschland eine so große Bereitschaft von vielen freiwillig und ehrenamtlich Tätigen gibt, Flüchtlingen zu helfen, sie zu empfangen und ihnen zu helfen, heimisch zu werden. Diese Offenheit müssen wir uns erhalten. Unsere Städte und Gemeinden leisten gute Arbeit.

Dennoch, die ganze Wahrheit ist: viele Kommunen ächzen unter der Flüchtlingslast. 30 bis 40 Prozent der Asylbewerber kommen aus den Ländern des westlichen Balkan. Diese Lage ist so nicht haltbar. Die Staaten des Westbalkan sind auf dem Weg nach Europa. Und als solche müssen wir sie auch behandeln. Für diese Gruppe gibt es keine Chance auf Anerkennung auf Asyl. Da müssen die Entscheidungen deutlich schneller fallen und nach den Entscheidungen auch tatsächlich Rückführungen stattfinden.

Sollten Albanien, Mazedonien und der Kosovo zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt und Grenzkontrollen wieder eingeführt werden?

Die Frage der Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten darf kein Tabu sein – gerade wenn wir den wirklich von Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg bedrohten helfen wollen. Albanien, Mazedonien und Kosovo suchen kraft eigener Entscheidung die Annäherung an die EU und können schon deshalb nicht gleichzeitig als Verfolgerstaaten behandelt werden. Ihre Anerkennung als sichere Herkunftsstaaten könnte Entlastung bringen. Bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen sehe ich das nicht.

Vier EU-Länder, Deutschland, Italien, Österreich und Schweden nehmen zwei Drittel der Flüchtlinge in Europa auf. Ist das gerecht?


So wie es ist, kann es nicht bleiben. Das hat mit europäischer Solidarität nichts zu tun. Wir brauchen Verteilungsquoten in Europa, die zu mehr Gerechtigkeit führen. Am wichtigsten ist es aber, Anreize für die Menschen zu schaffen, in ihren Ländern zu bleiben und gar nicht erst zu fliehen. Europa muss sich nicht nur, aber auch wirtschaftlich eindeutig mehr in den wichtigsten Herkunftsstaaten der Flüchtlingsströme engagieren.

Wie soll das in Libyen oder Syrien funktionieren, wo seit Jahren ein fürchterlicher Bürgerkrieg tobt?

Nach Jahren erbitterter Auseinandersetzung gibt es in Libyen gerade die Chance auf eine Regierung der nationalen Einheit. Käme es dazu, gäbe es wieder staatliche Autorität; dann wären große Teile Libyens nicht mehr unter dem Einfluss von organisierter Kriminalität und Schlepperorganisationen. Das würde den Flüchtlingsstrom deutlich abschwächen. In Syrien kommen wir nach fünf Jahren Bürgerkrieg und mehr als 200 000 Toten an einen Wendepunkt. Das Assad-Regime ist militärisch geschwächt. Der Vormarsch von ISIS setzt auch die Nachbarstaaten unter Druck. Auch deshalb steigt die Bereitschaft zu Kompromissen. Und die Wiener Atomvereinbarung mit Iran bringt Bewegung in die Regionaldiplomatie. Zum ersten Mal haben sich der amerikanische und russische Außenminister mit den Golfstaaten zu Syrien-Gesprächen getroffen. Das ist noch kein Durchbruch, aber ein Aufbruch, auf den wir lange gewartet haben.

Der türkische Präsident Erdogan verschärft gerade die Angriffe auf die kurdische Terrororganisation PKK. Missbraucht er den Kampf gegen ISIS für innenpolitische Zwecke, also für Auftrieb bei möglichen Neuwahlen?

Die Lage ist viel komplexer. Ich gebe drei Dinge zu bedenken: 1. Die Türkei hat die meisten Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten Irak und Syrien aufgenommen und versorgt sie. 2. Der Bürgerkrieg in Syrien birgt Risiken für die grenznahen südlichen Regionen der Türkei, PKK-Einheiten haben zudem türkische Sicherheitskräfte attackiert. 3. Die Erdogan-Regierung hat viel in den Ausgleich und die Versöhnung mit den Kurden investiert. Sie darf jetzt nicht zulassen, dass diese Brücken völlig eingerissen werden und der Aussöhnungsprozess zusammenbricht. Deshalb: Ja, wir müssen genau hinschauen und der Türkei sagen, was wir erwarten, aber wir dürfen es uns nicht zu leicht machen.

Viele Deutsche fragen sich, ob sie in der Türkei noch unbesorgt Urlaub machen können.

Zehntausende Deutsche sind unterwegs in der Türkei, auch aus meinem Mitarbeiter- und Freundeskreis. Die Auseinandersetzung an den Grenzen zu Syrien und zum Irak hat bisher keine Fernwirkung auf die Touristenzentren wie Antalya oder Bodrum.

In der Ukraine wird wieder gekämpft. Worauf kommt es jetzt an?

Die Lage in der Ost-Ukraine ist explosiv. Ich habe deshalb in dieser Woche in Gesprächen mit dem ukrainischen und dem russischen Außenminister vorgeschlagen, dass nicht erst in zwei Wochen, sondern so schnell wie möglich die Militärs der Konfliktparteien und der OSZE zusammenkommen, um darüber zu beraten, wie die Lage entschärft und der Abzug der Waffen gelingen kann. Es steht viel auf dem Spiel: Wenn sich jetzt nicht beide Konfliktparteien auf den Friedensprozess besinnen, können wir jederzeit in eine neue militärische Eskalationsspirale geraten.

19 Prozentpunkte Abstand zwischen Union und SPD in den Umfragen. Braucht die SPD da überhaupt einen Kanzlerkandidaten oder ist das Rennen gegen Angela Merkel eh verloren, wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Albig glaubt?

Die SPD wird mit einem Kanzlerkandidaten antreten. Eine Partei mit 150-jähriger Geschichte wird Wahlen nicht verloren geben, bevor der Wahlkampf begonnen hat. Und wenn die Umfragen nicht zufriedenstellend sind, müssen wir dafür arbeiten, dass sie besser werden und zeigen, dass es einer starken sozialdemokratischen Kraft in Deutschland bedarf. Wie sehr, hat die erste Hälfte der Legislaturperiode wieder bewiesen. Niemand sonst hätte die Kraft gehabt, zum Beispiel den Mindestlohn in Deutschland durchzusetzen.

Wie sollte der Kanzlerkandidat denn bestimmt werden – im Hinterzimmer wie 2013 oder per Urwahl aller SPD-Mitglieder?

Mitgliederentscheide sind der SPD nicht unbekannt. Sigmar Gabriel selbst hat den Mut gehabt, den Koalitionsvertrag zur Entscheidung vorzulegen. Wenn es um die Kanzlerkandidatur geht, macht das aber nur Sinn, wenn mehrere Kandidaten zur Verfügung stehen.

Was würden Sie denn 2017 am liebsten machen – Bundespräsident oder Kanzlerkandidat?

2017 werde ich im Wahlkampf dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel helfen, die SPD so stark wie möglich zu machen.

Mit dem Anspruch, Frau Merkel als Kanzlerin abzulösen?

Die SPD wird den Anspruch nicht aufgeben, eine Regierung von vorne zu führen.

2015 ist Ihr 20. Hochzeitstag. Vor ziemlich genau fünf Jahren haben Sie Ihrer Frau eine Niere gespendet. Wie geht es Ihnen beiden heute?

Wir feiern jetzt beide gemeinsam den fünften Geburtstag nach der Nierentransplantation. Uns geht es gut und wir sind beide froh, die Entscheidung so getroffen zu haben. Es hat uns beiden gut getan.

Interview: Burkhard Uhlenbroich und Roman Eichinger. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der „Bild am Sonntag“.

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