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Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth beim Sommerempfang der evangelischen Akademie Abt Jerusalem in Braunschweig

25.08.2016 - Rede

Sehr geehrte Damen und Herren,

Leider kann ich heute Abend wegen einer kurzfristig anberaumten Reise in die Türkei nicht bei Ihnen in Braunschweig sein. Dennoch möchte ich gerne die Gelegenheit nutzen, mich mit einigen Worten an Sie zu wenden.

Der Namenspatron Ihrer Akademie, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, auch Abt Jerusalem genannt, war einer der wichtigsten Theologen in der Zeit der Aufklärung. Damals, im 18. Jahrhundert, ging es darum, die Lehre des Protestantismus an die Aufklärung anzupassen und so zu bewahren – was für ein Projekt!

Und die Wechselwirkung zwischen Religion und Gesellschaft beschäftigt mitnichten nur Theologen wie Abt Jerusalem, sondern auch Politiker wie mich. Nicht erst seit meiner Ernennung zum Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt vor drei Jahren begleitet mich die Frage: Was bedeutet mein Christsein eigentlich für meine politischen Überzeugungen und Entscheidungen? Wie können wir Politik – für Deutschland, für Europa und die Welt – in christlicher Verantwortung gestalten? Es ist ja schließlich nicht so, dass man seinen Glauben einfach so wie einen Mantel an der Garderobe abgibt, wenn man Parlamentarier wird oder ein Büro im Auswärtigen Amt bezieht.

Sie merken schon: Ich will hier heute mit Ihnen etwas grundsätzlicher werden, auch wenn alle Welt im Moment vom Brexit redet. Auf Ihrer Internetseite habe ich gelesen, dass diese Akademie ein Ort ist, „an dem öffentlich und kontrovers über Glaubensfragen und ethische Herausforderungen nachgedacht und diskutiert wird. Unterschiedliche Meinungen sollen zur Sprache kommen und miteinander um Perspektiven ringen, wie wir heute und morgen leben wollen.“

An diese Vorgabe will ich mich gerne halten! Ich möchte daher meine heutige Rede dazu nutzen, um mit Ihnen fünf Gedanken zu der Wechselbeziehung von Politik und Religion zu teilen:

Erstens: Christsein bedeutet für mich zu allererst, nicht wegzuschauen. Nicht blind zu sein gegenüber dem, was um uns herum in der Welt geschieht.

Wir leben in einer Welt, in der derzeit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror sind. Wir leben in einer Welt, in der sich an vielen Orten immer noch grausame Menschenrechtsverletzungen abspielen. Wir leben in einer Welt, in der Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung, Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung unterdrückt und verfolgt werden.

Nun mag man einwenden: Das geschieht doch alles weit entfernt von uns in Europa und geht uns nichts an. Und ich sage, nicht nur als Politiker, sondern gerade auch als Christ: Tut es eben doch! Weil es uns früher oder später auch hier in Deutschland ganz konkret selbst betrifft.

Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir uns durch Mauern und Zäune von den Problemen in anderen Teilen der Welt abschotten könnten – selbst wenn wir es wollten. Flüchtlingsbewegungen machen nicht an nationalen Grenzen halt, sie bahnen sich ihren Weg – bis vor unsere Haustür, bis wir sie nicht länger ignorieren können. Auch Kriege und Terror holen uns früher oder später ein, wenn wir Soldaten in Krisenherde schicken müssen oder Terroristen Gewalt und Zerstörung auch zu uns nach Europa bringen.

Ja, wir leben eben alle in einer Welt. Vielleicht haben wir das bisweilen selbst etwas aus dem Blick verloren, gerade in Zeiten, in denen wir uns nur noch um unsere eigenen Probleme wie Eurokrise oder Brexit drehen.

Zweitens: Christsein bedeutet für mich immer auch, sich einzumischen und zu handeln. Der Glaube ist selbstverständlich etwas sehr Persönliches und Privates. Aber dennoch: Als Christen tragen wir nicht bloß eine Verantwortung für uns selbst, sondern immer auch für unsere Mitmenschen.

Martin Luther zum Beispiel war so einer, der sich eingemischt hat. Luther war ein Mann des Wortes und ein Mann der Tat zugleich. Denn er verstand sich nicht nur als Mönch und Reformator, sondern eben auch als „politischer Mensch“. Er bezog Position, vertrat diese auch vor den Autoritäten und handelte entsprechend. Und er hatte eine klare Botschaft an uns alle: Mischt Euch ebenso ein! Nehmt Eure Verantwortung vor Gott und der Welt ernst!

Was heißt das heute konkret? Für mich ist der Luthersche Imperativ auch ein klarer Auftrag an uns alle: Lasst uns zusammenstehen, lasst uns die Bewährungsproben dieser Zeit gemeinsam angehen! Es geht eben nicht um den Rückzug ins nationale Schneckenhaus und Abschottung. Jetzt ist vielmehr die Bereitschaft gefragt, sich anderen Menschen zuzuwenden und gemeinsam Verantwortung für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung zu übernehmen.

Drittens: Christsein bedeutet für mich selbstverständlich auch, den Geflüchteten, die in ihrer Not zu uns kommen, mit Respekt und Offenheit zu begegnen, in ihnen Menschen zu sehen und nicht bloß eine anonyme Masse – völlig unabhängig davon, ob sie dauerhaft bei uns bleiben dürfen oder nicht.

Wir handeln damit auch aus christlicher Verantwortung. Und es ist schon merkwürdig, dass Deutschland teilweise in der Kritik steht, weil wir mit Flüchtlingen so umgehen, wie es uns unsere gemeinsamen Werte doch vorgeben – nämlich human und anständig. Dies werden wir auch weiterhin tun und hierfür werden wir uns bei niemandem entschuldigen.

Viertens: Christsein bedeutet für mich auch, Position zu beziehen gegen jegliche Form von religiösem „Rassismus“.

Wegen der schrecklichen Anschläge in Paris, Brüssel, Nizza, Würzburg, Ansbach, und anderswo jetzt alle Muslime unter einen Generalverdacht des Terrorismus zu stellen, ist nichts als verantwortungsloser Populismus. Wer sich so äußert, der versucht doch nur, die Anschläge für seine innenpolitischen Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist nicht nur schändlich, sondern auch hochgefährlich.

Denn diesen Demagogen auf den Leim gehen, hieße auch, dass die Terroristen ihre Ziele erreicht haben: Uns zu spalten und einen „Krieg“ der Religionen aufzuzwingen. Dabei geht es hier nicht um einen Konflikt der Religionen. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Sie verläuft vielmehr zwischen einer kleinen Minderheit von barbarischen Extremisten, die Hass und Misstrauen säen wollen, und einer überwältigenden Mehrheit von Menschen – ganz gleich welchen Glaubens, welcher Kultur und welcher ethnischen Zugehörigkeit –, die einfach nur friedlich und respektvoll zusammenleben wollen.

Wer meint, Islam und Demokratie seien unvereinbar, dem widerspreche ich ganz entschieden. Denn die Fakten widerlegen diese Behauptung: Die große Mehrheit der Muslime in der Welt lebt in Demokratien – in Indien, in Indonesien, in Malaysia, in Tunesien, aber auch in den USA und in der Europäischen Union.

Mein fünfter und letzter Punkt betrifft die Zukunft unseres Landes im Zeitalter der Migration. Es geht um eine Frage, auf die ich selbst noch keine abschließende Antwort habe: Wie kann unser Zusammenleben in einer multi-religiösen, multi-ethnischen und muli-kulturellen Gesellschaft jetzt und in Zukunft funktionieren? Das halte ich für eine der entscheidenden Bewährungsproben für unsere Gesellschaft in den kommenden Jahren.

Ja, Gesellschaften, die sich offen zeigen für unterschiedliche Kulturen, Religionen und Ethnien, sind anstrengend. Denn sie erfordern auch die Bereitschaft zu Veränderung. Und damit meine ich nicht nur die Menschen, die zu uns kommen. Auch wir selbst werden uns verändern müssen. Es wird auf Dauer kaum funktionieren, den Zuwanderern einfach zu sagen: „Wir sind in der Mehrheit. Passt Euch gefälligst an!“

Veränderungen bedeuten auch immer den Verlust von Bekanntem, den Verlust von Bezugspunkten. Und dies kann zu Unsicherheit führen und in letzter Konsequenz zu Angst und zu Rückzug und Einigelung.

Wir alle wissen: Angst ist ein ganz schlechter Ratgeber. Damit ein solches Gesellschaftsmodell funktioniert, brauchen wir vielmehr einen intensiven, inter-religiösen und interkulturellen Dialog, um auf allen Seiten bestehende Stereotype und Ängste abzubauen und ein gemeinsames Werteverständnis zu entwickeln. Was ich mir wünsche, ist gegenseitige Toleranz, die mehr ist als nur die Abwesenheit von Diskriminierung und Ausgrenzung. Was ich mir wünsche, ist gelebte Akzeptanz, die auch zur Empathie fähig ist. Das setzt aber auch voraus, dass wir uns wirklich füreinander interessieren und aufeinander einlassen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Schließen möchte ich mit einem Dank. Danke, dass sich derzeit so viele Brüder und Schwestern in unseren Kirchengemeinden engagieren. Hauptamtliche und Ehrenamtliche. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise teilweise bis zur vollständigen Erschöpfung. Für Mitmenschlichkeit, für Respekt und Toleranz, für eine Kultur des Willkommens. Das ist praktizierte Nächstenliebe. Und ich möchte Sie ermuntern, sich auch weiter zu engagieren.

Abt Jerusalem wird das Zitat zugesprochen: „Wie hell, wie heiter, wie ruhig wird alles in meiner Seele, sobald der Gedanke in ihr aufgeht, dass die Welt von einem höheren Wesen ihren Ursprung hat.“ Dieses Gottvertrauen sollte für uns Vorbild sein und sollte uns anspornen, trotz der gewaltigen Bewährungsproben, die vor uns liegen, nicht zu verzagen, sondern zu handeln. Mit unserem Glauben als inneren Kompass, der uns ermutigt, unseren Weg hoffnungsvoll zu gehen, auch wenn wir um die Schwierigkeiten wissen.

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