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„Wir müssen um Europa kämpfen“

18.01.2016 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview zum Kampf gegen den Terrorismus und zur europäischen Flüchtlingspolitik. Erschienen in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (18.01.2016).

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview zum Kampf gegen den Terrorismus und zur europäischen Flüchtlingspolitik. Erschienen in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (18.01.2016).

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Herr Steinmeier, Sie sind vor einigen Tagen 60 Jahre alt geworden, aber Sie haben noch einen weiteren Geburtstag gefeiert. Ihre Organspende an Ihre Frau ist fünf Jahr her. Wie geht es Ihnen heute?

Meiner Frau geht es seit der Transplantation sehr gut, schon fünf Jahre ein stabiler Zustand, sie geht ihrer Arbeit nach und hat keine Beschwerden. Und auch ich habe keine Beeinträchtigungen gespürt, die Organspende hat bei mir zu keiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit geführt. Wir feiern seit der Transplantation jedes Jahr einen zusätzlichen gemeinsamen Geburtstag und sind froh, dass wir ihn so unbeschwert feiern konnten.

Nach den Anschlägen in Istanbul und in anderen Ferienregionen sind viele Menschen verunsichert. Können Sie uns als Außenminister sagen, dass wir noch unbesorgt in den Urlaub fahren können?

Wir gehen mit unseren Reise- und Sicherheitshinweisen tagtäglich sehr verantwortungsvoll um. Wir wollen den Menschen keine Angst machen, sondern belastbare, seriöse Informationen geben. Wir sagen: Schaut genau hin, und die meisten Urlauber tun das auch. Mit Blick auf das Attentat in Istanbul sind wir dabei, sehr sorgfältig zu ermitteln, welche Hintergründe Tat und Täter haben. Daraus leiten wir dann gegebenenfalls weitere Reisehinweise ab. Aber es gibt derzeit keinen Anlass, generell vor Reisen in die gesamte Türkei zu warnen.

Als neuer OSZE-Vorsitzender haben Sie dem Terror den Kampf angesagt. Wie soll das gehen mit einer OSZE, die viele als einen zahnlosen Papiertiger ansehen?

Viele Staaten in der OSZE fühlen sich zunehmend durch den internationalen Terrorismus bedroht, allen voran Länder mit einer eigenen muslimischen Bevölkerung. Das stärkt den Zusammenhalt und die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln auch innerhalb der OSZE. Aber es wird nicht die eine Entscheidung geben, mit der wir den Terror erfolgreich bekämpfen. Entscheidend ist ein von der ganzen Staatengemeinschaft getragener und unterstützter politischer Gesamtansatz. Da sind wir schon ganz gut vorangekommen. Im Irak und Syrien werden wir im Kampf gegen den Terror der IS aber ohne eine militärische Auseinandersetzung nicht auskommen.

Aber reicht das?

Nein, wir müssen auch um die Herzen und Köpfe der jungen Menschen kämpfen. Das können wir nicht allein. Wir brauchen die muslimische Welt, die den jungen Menschen in ihren Staaten beibringt, dass Religion nie und nirgendwo eine Rechtfertigung für Terror ist. Wir haben es in diesen Tagen bei den Anschlägen in Tunis, Beirut und Istanbul wieder einmal schmerzlich erfahren: Terror kennt keine Religion und keine Grenzen.

Nach den Übergriffen der Silvesternacht ist bei uns die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen gekippt. Die Forderung nach Grenzkontrollen oder gar Grenzschließungen ist lauter geworden. Warum tun wir das nicht, wenn es sogar unsere liberalen skandinavischen Nachbarn tun?

Die skandinavischen Staaten haben ihre Grenzen nicht geschlossen, sondern sie führen stichpunktartige Kontrollen durch. Auch die skandinavischen Staaten sagen, dass wir die Grenzen nicht schließen können, solange Menschen in größter Not auf der Flucht vor Krieg und Gewalt einen Zufluchtsort brauchen. Allerdings müssen wir auch mit nationalen und europäischen Maßnahmen dazu beitragen, dass nach dem Winter der Flüchtlingsstrom nicht wieder dieselben Ausmaße annimmt. Eine Million Flüchtlinge im Jahr kann ein Land wie Deutschland verkraften, aber nicht in jedem Jahr.

Was ist also zu tun?

Wir haben uns auf zwei Asylpakete, eine Verschärfung des Strafrechts und erleichterte Ausweisungen und Rückführungen verständigt. Wir müssen die europäischen Außengrenzen besser schützen. Und es wird auch nicht ohne Verabredungen mit der Türkei als Schlüsselland der Migration gehen, damit nicht täglich Tausende über die Ägäis über Griechenland nach Europa fliehen. Aber am Ende bleibt eine Wahrheit: Zum Kern der Dinge dringen wir nur vor, wenn wir die Fluchtursachen bekämpfen und Kriege und Konflikte wie in Syrien und im Nahen und Mittleren Osten entschärfen. Daran arbeiten wir mit hoher Intensität und ich selbst mit aller Kraft.

Es muss doch wohl aber auch zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge in Europa kommen. Warum gelingt es Deutschland mit all seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht nicht, unsere Nachbarn zu mehr Solidarität zu bewegen?

Europäisch zu handeln, muss auch heißen: klug handeln! Natürlich hat Deutschland Einflussmöglichkeiten in Europa. Die müssen wir nutzen, um die anderen Mitgliedsstaaten zu überzeugen. Europa hat aber zurzeit gleich mit drei Krisen zu kämpfen: Der Wirtschaftskrise im mediterranen Raum, der Frage, ob Großbritannien in der EU bleibt, und der Flüchtlingsfrage. Wir sind mit unserer Überzeugungsarbeit nicht mehr bei Null. Aber wir müssen dranbleiben und brauchen einen dauerhaften Verteilmechanismus in Europa.

Fürchten Sie, dass Europa an diesen Herausforderungen zerbricht?

Das glaube ich nicht, aber ich habe die Sorge, dass der europäische Integrationsprozess abbricht und nicht weitergeht. Europa ist für Generationen heute mit all seinen großartigen Errungenschaften zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Wir müssen wieder lernen, für dieses Europa zu kämpfen. Wir müssen den Menschen klar machen: Europa ist keine Bedrohung, sondern ein Gewinn für alle Mitgliedsstaaten und die einzige Garantie für die Fortsetzung von 70 Jahre Frieden.

Interview: Kai Struthoff. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen​​​​​​​

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