Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

„Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik“

14.09.2017 - Interview

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit SPIEGEL ONLINE (14.09.2017). Themen: Beziehungen zur Türkei und zu Russland, Atomkonflikt mit Nordkorea.

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit SPIEGEL ONLINE (14.09.2017). Themen: Beziehungen zur Türkei und zu Russland, Atomkonflikt mit Nordkorea.

***

Die Türkei hat eine Reisewarnung für Deutschland ausgegeben - wie weit soll die Eskalation mit Präsident Recep Tayyip Erdogan noch gehen?

Diese Reisewarnung der türkischen Regierung ist absurd. Wir haben es vorgezogen, darauf gar nicht erst zu reagieren. Offenbar hat der türkische Staatspräsident keinerlei Interesse, zu einem normalen Umgang zurückzukehren. Aber viel schlimmer sind tatsächlich die immer neuen Verhaftungen von Deutschen in der Türkei: Jedes Mal müssen wir uns konsularischen Zugang hart erkämpfen, obwohl das völkerrechtlich selbstverständlich ist. Nirgendwo gibt es glaubwürdige Gründe für die Verhaftungen, und auch nach monatelanger Untersuchungshaft bleiben die strafrechtlichen Vorwürfe im Dunkeln - für die Betroffenen ist das eigentlich nicht zu ertragen.

Grünen-Chef Cem Özdemir wirft der Bundesregierung einen „Kuschelkurs“ gegenüber Erdogan vor.

Das ist dummes Zeug. Und das weiß er auch.

Mehr nicht?

Ich schätze Herrn Özdemirs Engagement in Sachen Menschenrechte, in der Türkei und anderswo. Aber solche Sprüche haben ja jetzt nichts mit der Türkei, sondern mit seinem persönlichen Wahlkampf zu tun. Wir haben die Wirtschaftshilfe reduziert, die Reisehinweise verschärft, die Einfuhr von Rüstungsgütern in die Türkei fast auf null reduziert, was wegen der Nato-Mitgliedschaft des Landes nicht ganz einfach ist - ich weiß nicht, was sich Herr Özdemir noch vorstellt? Wir werden nicht die diplomatischen Beziehungen zur Türkei abbrechen: Dann hätten wir noch weniger Möglichkeiten, uns um die Deutschen in Haft zu kümmern und sie frei zu bekommen.

Und was ist mit der Forderung Ihres Parteichefs und Kanzlerkandidaten Martin Schulz, die EU-Beitrittsverhandlungen zu beenden?

Was er gesagt hat, ist doch nur das, was die überwältigende Mehrheit der Deutschen weiß und denkt: Dass es eine Farce wäre, mit Erdogans Türkei weiter über den Beitritt zur EU zu verhandeln. Was deutsche Politik nun auch auf Dauer nicht machen kann, ist, gegen die eigene Bevölkerung zu argumentieren. Übrigens: Erdogan selbst hat doch gar kein Interesse mehr an einem Beitritt.

Auf EU-Ebene ist die Stimmung aber offenbar anders.

In der EU sind die Interessen, wie so oft, auch in dieser Frage heterogen. Das Europäische Parlament drängt seit Langem auf eine Suspendierung der EU-Beitrittsverhandlungen, für andere geht es dabei um ihre nationalen wirtschaftlichen Interessen. Für mich aber ist klar: Wie sollen wir mit einem Mann wie Erdogan noch über die EU-Mitgliedschaft sprechen, solange er unsere und übrigens auch viele seiner eigenen Staatsbürger unbegründet ins Gefängnis steckt? Er entfernt doch die Türkei von der EU - nicht wir.

Die Türkeipolitik hat die SPD verschärft. Ist unser Eindruck richtig, dass Sie auch den Kurs gegenüber Russland geändert haben - nur in die andere Richtung?

Es ist dringend nötig, dass wir einen Neuanfang gegenüber Moskau suchen. Darin hat mich auch Henry Kissinger kürzlich in einem Gespräch bestärkt: Andernfalls treten wir in eine sehr gefährliche Welt ein.

Und deshalb wollen Sie eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland und einen Waffenstillstand in der Ostukraine, bevor das Minsker Abkommen erfüllt ist?

Ich würde gern sagen, warum die Welt gefährlicher zu werden droht: Wenn Nordkorea sich atomar bewaffnet, werden viele andere Staaten auch damit beginnen. Auch in unserer Nachbarschaft. Eine Welt mit vielen kleineren atomar bewaffneten Staaten wird weit gefährlicher als früher die Ost-West-Konfrontation. Nur durch die Zusammenarbeit der USA mit Russland und übrigens auch mit China ist das zu verhindern. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik.

Zurück zu den Russlandsanktionen.

Ich habe den Vorschlag einer schrittweisen Lockerung der Sanktionen im Falle einer schrittweisen Umsetzung von Minsk schon vor Jahr und Tag gemacht. Es ist einfach unrealistisch zu sagen: Erst wenn Minsk zu 100 Prozent umgesetzt wird, folgen diese Schritte. Ein wirklich nachhaltiger, dauerhafter Waffenstillstand wäre ein wichtiger Schritt. Dafür hat Russlands Präsident Wladimir Putin jetzt einen Vorschlag präsentiert, mit dem er seine bisherige Position - wenn es ihm ernst ist - deutlich korrigiert. Das sollte man jetzt als Diskussionsgrundlage nehmen - zumal der von Putin ins Gespräch gebrachte Blauhelm-Einsatz in der Ostukraine seit Jahren unsere Forderung ist. Ich selbst habe immer wieder mit ihm darüber gesprochen, und auf meine Bitte hin hat dies auch Angela Merkel getan.

Aber Putin stellt doch andere Bedingungen.

Das stimmt. Aber auch da hat er sich inzwischen auf uns zubewegt. Deshalb sind wir gut beraten, diese Initiative aufzunehmen. Jetzt sollten wir zügig die Verhandlungen in New York aufnehmen. Wenn das gelingt, und wir das schnell umgesetzt kriegen, sollten wir uns natürlich auch bewegen - indem wir erste Sanktionen lockern.

Kann es sein, dass bei diesem Thema die Meinung Ihres Parteifreunds Gerhard Schröder durchscheint?

Und wenn es so wäre?

Dann?

Wenn Gerhard Schröder mir den Rat gegeben hätte, würde ich es nicht verschweigen. Aber ob Sie es glauben oder nicht: Ich bin in der Lage, selbstständig zu denken.

Der Ex-Kanzler soll Aufsichtsratschef beim russischen Öl-Unternehmen Rosneft werden. Frau Merkel hat ihn dafür kritisiert, auch Martin Schulz. Würden Sie so einen Posten nach dem Ende Ihrer politischen Karriere annehmen?

Die Frage ist albern.

Warum?

Weil ich gerade mit Martin Schulz dafür kämpfe, die nächste Bundesregierung anzuführen.

Sie haben kürzlich dem umstrittenen russischen Fernsehsender RT Deutsch ein Interview gegeben, zuvor hatten Sie sich in Jena mit Russlanddeutschen getroffen. Ist das der Versuch, da noch Wählerstimmen zu ziehen?

Wenn es so wäre, was wäre daran auszusetzen? Wir müssen uns doch als deutsche Politiker daran gewöhnen, dass es nicht nur unsere etablierten Medien gibt. Zum einen sind da die sozialen Netzwerke, zum anderen auch ausländische TV-Sender, die Programme in deutscher Sprache machen. Wir reden auch mit anderen, wie mit Al Jazeera, und warum nicht auch mit chinesischen Sendern? Und zu RT: Deren Zuschauer will ich jedenfalls nicht der AfD überlassen.

Sie adeln so einen Sender, indem Sie ihm als Vizekanzler und Außenminister ein Interview geben.

Das verstehe ich nicht. Jedenfalls erreiche ich da Menschen russischer Herkunft, die bei uns in Deutschland leben und nicht SPIEGEL ONLINE lesen.

Das würden Sie mit der rechts-nationalen „Jungen Freiheit“ wohl auch schaffen, trotzdem geben Sie denen kein Interview.

RT ist nicht die „Junge Freiheit“. Wir haben doch als deutsche Demokraten ein Interesse daran, dass auch in autoritären Staaten unsere Stimme gehört wird.

Aber RT ist ein russisches Propagandainstrument.

Das ist ja eher ein Argument, dort mehr Interviews zu geben. Sie können mir schon abnehmen, dass ich auch hier meine Haltung klarzumachen imstande bin.

Interview: Florian Gathmann und Severin Weiland

www.spiegel.de

Verwandte Inhalte

Schlagworte

nach oben