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Afghanistan: „Es gibt keine vernünftige Alternative zu einem Friedensprozess“

30.08.2015 - Interview

Interview von Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit der afghanischen Tageszeitung Hasht e Subh anlässlich seines Afghanistan-Besuchs (30.08.2015).

Interview von Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit der afghanischen Tageszeitung Hasht e Subh anlässlich seines Afghanistan-Besuchs (30.08.2015).

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Deutschland hat in den vergangenen vierzehn Jahren viel in Afghanistan investiert - von kleineren Projekten im Norden des Landes bis hin zu großen Vorhaben wie der Ausrüstung und Ausbildung der afghanischen Polizei. Wurden diese Mittel Ihrer Meinung nach richtig eingesetzt, und erhalten Sie häufig Rückmeldung aus offiziellen afghanischen Kreisen? Sind Sie zufrieden mit Ihrer Unterstützung für Afghanistan?

Afghanistan und die internationale Gemeinschaft haben viel erreicht. Seit dem Ende des Taliban-Regimes hat sich das Pro-Kopf-Einkommen mehr als verdoppelt, die durchschnittliche Lebenserwartung ist um fast sechs Jahre gestiegen, mehr Menschen als je zuvor haben Wasser und Strom, viele Mädchen und Jungen können zur Schule gehen. Das ist dem Aufbauwillen des afghanischen Volkes zu verdanken, aber auch einer beispiellosen internationalen Unterstützung. Deutschland ist stolz darauf, zu den wichtigsten Partnern Afghanistans auf diesem Weg zu gehören. Jetzt muss dieser Weg fortgesetzt und das Erreichte gesichert werden. Dazu gehören auf Seiten der afghanischen Regierung weitere entschlossene Reformen und entschiedenes Vorgehen gegen Korruption.

Deutschland hat im Kampf gegen den Terrorismus viele Soldaten in Afghanistan verloren. Auch andere NATO‑Mitgliedstaaten haben Truppen bereitgestellt, und sie alle hatten den Verlust von Soldaten zu beklagen. Erwiesenermaßen befinden/befanden sich Osama bin Laden, Mullah Omar und andere Anführer der Taliban in Pakistan und werden von diesem Land auch unterstützt. Sollte der Kampf gegen den Terrorismus Ihrer Ansicht nach neu definiert und den realen Gegebenheiten angepasst werden? Warum übt Deutschland im Rahmen seiner außenpolitischen Möglichkeiten keinen Druck auf die pakistanische Regierung aus, um sie dazu zu bewegen, den Terrorismus nicht weiter zu unterstützen?

Nach meinem Eindruck setzt sich in allen Ländern der Region die Einsicht durch, dass jede Art von Terrorismus entschlossen und vorbehaltlose verurteilt und bekämpft werden muss. Terror und Gewalt lassen sich langfristig für keinen Staat nutzbar machen; sie sind menschenverachtend und wirken immer zerstörerisch. Pakistan ist selbst immer wieder Opfer terroristischer Anschlägen. Entschiedene Maßnahmen gegen Terrorgruppen liegen deshalb im eigenen Interesse der pakistanischen Regierung. Das gilt auch für die Kooperation mit Afghanistan. Ein Blick auf die Karte macht klar: Nur beide Länder gemeinsam können diese Herausforderung meistern. Wir unterstützen deshalb Präsident Ghanis mutige Entscheidung, dem Nachbarn die Hand zu einer weitreichenden Kooperation zu reichen. Wir setzen darauf, dass Afghanistan und Pakistan gerade nach den feigen Anschlägen der vergangenen Wochen die Gesprächskanäle offen halten und weiter den Weg der Annäherung gehen.

Der derzeitigen Regierung in Kabul war es ein großes Anliegen, die Probleme mit Pakistan zu lösen, um Afghanistan den Frieden zu bringen. Deutschland hat den afghanischen Friedensprozess ebenfalls interessiert verfolgt und sich auch für seine Förderung eingesetzt. Mittlerweile jedoch scheint es, als suche die afghanische Regierung im Friedensprozess nicht mehr Pakistans Unterstützung, da diese Unterstützung während des letzten Jahres nicht ausreichend vorhanden war. Halten Sie einen positiven Ausgang des afghanischen Friedensprozesses angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Region für möglich?

Eines ist aus meiner Sicht klar: Der Konflikt in Afghanistan lässt sich nicht mit rein militärischen Mitteln lösen. Deshalb gibt es keine vernünftige Alternative zu einem Friedensprozess. Die Taliban stehen vor der Wahl, ob sie weiter das Blut unschuldiger Männer, Frauen und Kinder vergießen oder ein neues Kapitel aufschlagen und ihre Interessen in einen politischen Prozess zum Wohl des Landes einbringen wollen. Alle Seiten müssen alles daran setzen, dass diese einzigartige Chance nicht vertan wird. Partner können dabei helfen – wie zuletzt Pakistan, China und die USA. Aber der Friedensprozess muss zwischen Afghanen stattfinden und von ihnen selbst vorangetrieben werden.

Der Flughafen in Masar-e-Sharif, ein großes Krankenhaus in der Provinz Balkh und viele weitere Projekte sind sichtbare Zeichen der Unterstützung durch Deutschland. Ihr Engagement in diesem Land könnte eine andere Form annehmen, wenn die deutsche Regierung willens wäre, in große Infrastrukturprojekte zu investieren, etwa in großflächige Bewässerungssysteme im Norden und Nordosten Afghanistans. Große Vorhaben dieser Art könnten die Landwirtschaft und das Entstehen kleiner Industriezweige zur Unterstützung der Landwirtschaft in der Region befördern. Könnte Deutschland Ihrer Meinung nach seine Unterstützung und sein Engagement in Afghanistan im Vergleich zu den vergangenen vierzehn Jahren neu ausrichten und auf große Infrastrukturprojekte verlagern?

Für kein anderes Land der Welt hat Deutschland mehr finanzielle Unterstützung im Bereich Entwicklungszusammenarbeit geleistet als für Afghanistan. Diese Unterstützung werden wir fortsetzen. Aber unser Ziel von Anfang an war, Afghanistan in die Lage zu versetzen, selbst ein stabiles Gemeinwesen aufzubauen. Auch Präsident Ghani hat mehr Eigenständigkeit als Losung für die nächsten Entwicklungsschritte ausgegeben. Damit Investitionen in die Infrastruktur nachhaltig sind, sollten sie künftig zunehmend von der einheimischen und internationalen Wirtschaft ausgehen.

Die USA und Großbritannien befinden sich in diesem Land nach wie vor im Krieg und entsenden im Rahmen der Mission „Resolute Support“ ferner Militärexperten nach Afghanistan. Würden auch Sie möglicherweise die erneute Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan für die Beteiligung an Kampfhandlungen (und nicht nur zu Ausbildungszwecken) in Erwägung ziehen, falls sich die Lage ändert und ISIS und die Taliban eine größere Bedrohung darstellen?

Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte Ende 2014 war ein historischer Schritt. Er war Ausdruck des gewachsenen Vertrauens in die Fähigkeit Afghanistans, die Stabilisierung des Landes in die eigene Hand zu nehmen. Bisher halten die afghanischen Streitkräfte mit großem, bewundernswertem Einsatz und unter hohen Opfern den Herausforderungen stand. Gleichzeitig gilt: Die Gewalt in Afghanistan unter Kontrolle zu bringen wird noch viel Engagement und einen langen Atem fordern. Deutschland steht mit seiner maßgeblichen Beteiligung an der Mission „Resolute Support“ im NATO-Rahmen weiter an der Seite Afghanistans – mit Beratung und Ausbildung.

Deutschland und Afghanistan verbinden langjährige Beziehungen. Unsere erste strategische Partnerschaft mit Deutschland wurde vor Jahrzehnten besiegelt. Wie sehen Sie die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und Deutschland als Partner? Wird sich Deutschland Ihrer Meinung nach weiterhin für Afghanistan engagieren?

In diesem Jahr begehen wir 100 Jahre deutsch-afghanische Freundschaft mit einer Reihe von Feierlichkeiten und gegenseitigen Besuchen. Freunde, so heißt es, erkennt man in der Not. Unsere Beziehung hat durch gute und schlechte Zeiten gehalten, weil sie tiefer geht als bloße Interessenpolitik. Sie wird getragen von gegenseitigem Interesse, vielen persönlichen Begegnungen und zwischengesellschaftlichen Verbindungen. Deswegen bin ich auch optimistisch für die Zukunft. Sie können sicher sein: Deutschlands Freundschaft mit Afghanistan hat keinen Endtermin.

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