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„Verantwortung, Interessen, Instrumente“ - Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Botschafterkonferenz 2016

29.08.2016 - Rede

Lieber Witold Waszczykowski,
lieber Jean-Marc Ayrault,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
verehrte Gäste,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

Ja, wir leben in unruhigen Zeiten. In solchen Zeiten braucht es Selbstvergewisserung und Orientierung. Darum soll es in den kommenden Tagen gehen, wenn wir gemeinsam über die Verantwortung, die Interessen und die Instrumente deutscher Außenpolitik diskutieren. Ich freue mich auf diesen Austausch!

Es ist mir eine ganz besondere Freude, dazu heute meinen polnischen und meinen französischen Kollegen, Witold Waszczykowski und Jean-Marc Ayrault, und zahlreiche weitere Gäste aus Warschau und Paris begrüßen zu können. Ihnen allen, meine Damen und Herren: herzlich willkommen!

Unsere Herausforderungen in einer unübersichtlichen Welt standen auch gestern in Weimar auf der Tagesordnung, wo Witold, Jean-Marc und ich zusammengekommen sind – zum 25. Jahrestag der Gründung des Weimarer Dreiecks. Und wenn wir uns einen Augenblick zurückerinnern, dann wird deutlich, dass die Zeit, in der das Weimarer Dreieck 1991 begründet wurde, auch eine unruhige Zeit war. Die Mauer war gefallen, die deutsche Einheit Wirklichkeit geworden, aber der Zerfall der Sowjetunion war noch in vollem Gange. Es war eine Zeit, in der es ebenfalls um Orientierung ging, um den besten Weg in eine offene Zukunft. Damals waren es Krzysztof Skubiszewski, Roland Dumas und Hans-Dietrich Genscher, die sich zur Verantwortung Polens, Frankreichs und Deutschlands für das Zusammenwachsen eines allzu lange geteilten Europas bekannten.

Erlauben Sie mir, dass ich diesen Moment nutze, um drei herausragende Politiker zu würdigen, für die das Zusammenwachsen Europas nie nur politische Aufgabe, sondern eine Herzensangelegenheit war und die diesem Haus und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eng verbunden waren. Alle drei haben wir innerhalb des letzten Jahres verloren: Wir trauern um Walter Scheel, der letzte Woche verstarb, und der in schwierigen Zeiten gemeinsam mit Willy Brandt einer der Wegbereiter der deutschen Ostpolitik war. Er hat unser Land geprägt – mit einer Politik, die den Weg ebnete für die mutigen und entschlossenen Schritte, die später Hans-Dietrich Genscher unternahm, und die unser Land zur Wiedervereinigung führten. Auch Genscher, diesen großen Europäer, haben wir in diesem Jahr verloren. Und Guido Westerwelle ist von uns gegangen – viel zu früh - ein Politiker mit Leib und Seele, der sich mit Leidenschaft und Mut für die europäische Idee stark gemacht hat. Wir gedenken dieser drei deutschen Außenminister und herausragenden Europäer.

Heute, meine Damen und Herren, ist es unsere Verantwortung und unsere Chance, Europa in diesen unruhigen Zeiten erneut Orientierung zu geben. In einer Zeit, in der die Gleichzeitigkeit der Krisen und ihre explosive Dynamik uns atemlos und bisweilen fast ratlos macht - Syrien, Libyen, Irak, Jemen, Ukraine, um nur die drängendsten zu nennen.

Allein in diesem Sommer wurden wir durch eine ganze Kette erschütternder Terroranschläge heimgesucht – von Nizza und Rouen bis nach Kabul, von den USA über die Türkei bis nach Thailand. Und nach Ansbach und Würzburg ist die Sorge vor dem Terror nun auch hier bei uns in Deutschland greifbar geworden – eine Bedrohung, der sich unsere französischen Freunde spätestens seit den grausamen Anschlägen in Paris im Januar und November vergangenen Jahres ausgesetzt sehen.

Unser wichtiger Partner Türkei ringt mit den Folgen eines blutigen Putschversuchs. In der Ostukraine ist die vereinbarte Waffenruhe so brüchig und es sterben so viele Menschen wie seit vielen Monaten nicht mehr. Im Südsudan droht ein Aufflammen des grausamen Bürgerkriegs. Und jeden Tag werden wir in erschütternden Bildern Zeuge des Überlebenskampfes der Menschen in Aleppo – im sechsten Jahr des Bürgerkriegs in Syrien, der Millionen heimatlos und zu Flüchtlingen gemacht hat. Ich will hier gar nicht mehr sagen zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, als ich es schon an anderer Stelle getan habe. Klar ist: Der Wahlkampf in den USA ist so unruhig wie ungewöhnlich, aber von seinem Ausgang hängt für uns alle enorm viel ab.

***

Unruhig sind die Zeiten aber auch in Europa selbst. Mit dem bitteren Ausgang des britischen Referendums über den Verbleib in der EU ist das lange Zeit Unvorstellbare Wirklichkeit geworden. Die vermeintliche Unumkehrbarkeit des europäischen Einigungsprozesses mag noch Wunsch und Wille sein. Garantie aber gibt es für diese Unumkehrbarkeit nicht mehr. Für viele Menschen hat der Magnet des europäischen Einigkeitsprozesses an Kraft verloren.

Gleichzeitig ziehen enorme Fliehkräfte an unserer europäischen Gemeinschaft. Wir erleben den Aufwind alter Nationalismen, die unseren Zusammenhalt testen. Eine Politik des Ressentiments und der Angst wird hier und da wieder populär. Politische Bewegungen instrumentalisieren die Sorgen der Bevölkerung für enge, eigennützige, andere ausgrenzende Zwecke. Institutionen wie die EU werden zur Projektionsfläche eines weitverbreiteten Unbehagens an der Globalisierung.

Das gibt viel Anlass zur Sorge - es sollte uns aber auch Anlass sein, für dieses geeinte Europa zu streiten und zu kämpfen. Die Vernunft und die besten Argumente sollten dabei unsere schärfste Waffe sein.

Dass die EU zu entschiedenem und auch wirkungsvollem Handeln in der Lage ist, hat sie etwa mit der Vereinbarung mit der Türkei in diesem Jahr unter Beweis gestellt. Es ist kein Geheimnis, dass die Türkei kein einfacher Partner ist, dass wir manche Entwicklungen, auch nach dem glücklicherweise gescheiterten Putsch, kritisch bewerten. Aber wahr ist auch, dass eine menschenwürdige Sicherung der EU-Außengrenzen ohne eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei schwer vorstellbar ist. Das deutsch-türkische Verhältnis hat eine einzigartige Dimension durch Millionen Menschen türkischer Herkunft, die heute in Deutschland ihre Heimat haben. Aber es ist in unserem eigenen Interesse, dieses Verhältnis auch in Zukunft in eine starke EU-Türkei-Beziehung einzubetten.

Aber wenn wir über Europa und seine Handlungsfähigkeit sprechen, lassen Sie uns ganz ehrlich sein: auch zwischen uns, die wir im Weimarer Dreieck freundschaftlich verbunden sind, gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Europas und über die angemessene Interpretation europäischer Solidarität. Wir kommen nicht zusammen, weil wir uns bereits in allem einig sind, sondern weil wir wissen, dass es mit Europa nur vorangehen kann, wenn wir uns auf gemeinsame Orientierungen einigen können. Dass dieser Konsens trotz sehr unterschiedlicher Ausgangspunkte durch den beständigen Austausch wachsen und gelingen kann, dafür ist die Geschichte der deutsch-französischen Zusammenarbeit seit Jahrzehnten ein eindrucksvolles Beispiel. Das kann und soll uns auch im Weimarer Dreieck gelingen - als einem wichtigen Forum für den Austausch über die globalen Herausforderungen. Der erste „Weimar Workshop“ zur europäischen Chinapolitik, der heute Nachmittag polnische, französische und deutsche Diplomaten versammeln wird, ist Ausdruck des Potenzials, das diese Zusammenarbeit auch für unsere gemeinsame Zukunft hat. Ich bin Witold Waszczykowski dankbar, dass er für eine intensivere Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck gestern Vorschläge gemacht hat.

Meine Damen und Herren,

In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ beschreibt Robert Musil die innere Erschütterung einer Welt in Unordnung – der Welt vor hundert Jahren - und findet dafür ein anschauliches Bild: „Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne loslässt und sie wieder durcheinandergeraten.“

Dieses Bild der Weltlage trifft wohl auch das Empfinden vieler Menschen hier in Deutschland, vermutlich auch in Frankreich und Polen, und vieler Menschen weit über Europa hinaus. In meinen Gesprächen nehme ich tiefe Verunsicherung wahr angesichts der vielen Krisen und Konflikte in unserer Nachbarschaft. „Augen zu“ oder „Fernseher aus“ funktioniert nicht. Sinnbildlich hierfür stehen die Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden nach Europa kamen. Neben vielen anderen hat auch dieses Haus große Anstrengungen unternommen, zur Bewältigung dieser Krise beizutragen. Das gilt für buchstäblich alle Abteilungen, für zahllose Auslandsvertretungen, und allen voran für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Visastellen in der Region – in Ankara, in Beirut, in Erbil und anderen Orten. Für diese Leistungen, für dieses Engagement will ich Ihnen hier und heute meinen ausdrücklichen Dank und meine Anerkennung sagen.

Aber das Bild des Magneten, dessen strukturierende Anziehungskraft schwächer wird, womöglich abhandenkommt - aus für uns in diesem Moment vielleicht nur unvollkommen und ansatzweise erkennbaren Gründen - beschreibt auch recht gut die Herausforderung, vor der wir, die Außenminister und Diplomaten großer europäischer Demokratien wie Deutschland, Frankreich und Polen in diesen Zeiten stehen.

Die Krisen und Verwerfungen innerhalb Europas reflektieren die Unruhe um uns herum, ja stehen oftmals gar in dynamischer Beziehung zu den Konflikten und Problemen in der europäischen Nachbarschaft. Das gilt mit Blick auf das Mittelmeer und die wachsende Herausforderung durch fragile und zerfallende Staaten in unserer südlichen Nachbarschaft. Dass das auch mit Blick nach Osten gilt, wusste schon Egon Bahr, der prägnant formulierte: „Amerika ist unverzichtbar, Russland ist unverrückbar.“

Wir können uns ein unübersehbar schwieriger gewordenes Russland nicht einfach weiter weg wünschen. Wir müssen vielmehr einen Weg finden, um aus einer Phase der Konfrontation und der wachsenden Spannungen wieder zu einem belastbaren Verständnis gemeinsamer Sicherheit zu gelangen. Wir waren da - die Älteren erinnern sich - in Europa schon mal weiter. KSZE und die Schlussakte von Helsinki spiegeln ja die Erfahrung wider, dass eigene Sicherheit sich auf Dauer nicht ohne oder gegen die regionalen Nachbarn organisieren lässt. Und diese Erfahrung sollten wir nicht leichtfertig aufgeben. In dieser Welt gefährlicher und komplexer Konfliktlagen ist sie vielleicht heute sogar aktueller denn je. Innerhalb und außerhalb Europas!

Für unsere Sicherheit hier im Herzen Europas ist die enge Partnerschaft mit Amerika und die transatlantische Allianz auch künftig unverzichtbar. Und lassen Sie mich persönlich hinzufügen: die intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit John Kerry zu praktisch allen drängenden Fragen unserer Außenpolitik gehört für mich zu den Glücksfällen dieser Jahre.

Um in diesen Zeiten Orientierung zu geben und verantwortlich zu gestalten, was in unseren Möglichkeiten liegt, braucht die deutsche Außenpolitik einen dreifachen Fokus:

Erstens eine aktive und engagierte Krisenpolitik, die wir mit hohem diplomatischen Einsatz führen.

Das sage ich für unsere Deeskalations- und Vermittlungsbemühungen in der Ostukraine und gegenüber Russland. Dieser haben wir mit den ausgewogenen Beschlüssen des NATO-Gipfels von Warschau im Juli ein festes Fundament von Rückversicherung und Abschreckung einerseits und Dialogangeboten andererseits gegeben.

Das gilt aber weit darüber hinaus auch in Syrien, in Libyen und an anderen Konfliktherden. Dafür haben wir – mit tatkräftiger Unterstützung des Deutschen Bundestages - unsere Mittel und Instrumente ausgebaut und geschärft, von der humanitären Hilfe über die Krisenprävention und die Stabilisierung in Konfliktsituationen, bis hin zum Ausbau unserer Mediationsfähigkeiten.

Wir engagieren uns in der Internationalen Syrien-Kontaktgruppe und unterstützen die Bemühungen Staffan de Misturas, alle Optionen für einen politischen Verhandlungsprozess auszuloten und dafür den Weg zu bereiten. Wir sind einer der größten Geber bei der Stabilisierung IS-befreiter Gebiete in Syrien und im Irak und bei der Bereitstellung von Humanitärer Hilfe.

Deutschland hat sein Engagement in Mali stark ausgebaut. Deutschland engagiert sich bei der Unterstützung des Friedensprozesses in Kolumbien – dem Land, in dem neben Syrien die meisten Menschen Haus und Heimat verloren haben.

All diese Prozesse brauchen einen langen Atem – und bisweilen auch eine erhebliche Frustrationstoleranz. Aber sie bieten eine Chance, die Dinge zum Besseren zu wenden – wenn man es denn versucht und tut, statt nur lautstark das Bessere zu fordern. Ja, es mühsam sein, immer wieder über Stunden in stickigen Konferenzräumen um tragfähige Kompromisse zu ringen. Und dann auch Rückschläge zu erfahren. Aber so ist Diplomatie. Sie eilt nicht von Sieg zu Sieg. Mit Rechthaben allein kommt sie nicht voran. Gute Diplomatie im Dienste der Menschen macht man nicht mit dem Megaphon, sondern mit dem Blick fürs Mögliche und mit klugen, oft genug unvollkommenen Kompromissen – mit dem Iran, mit Rebellen in Kolumbien, in Arbeitsgruppen des Minsk-Prozesses.

Zweitens brauchen wir einen wachen Blick für die größeren Zukunftsfragen der internationalen Ordnung jenseits der Atemlosigkeit der Krisendiplomatie.

Wir müssen uns die Zeit nehmen, an kreativen Ansätzen zu arbeiten, die internationale Ordnung langfristig zu stärken, dem Magnet wieder Kraft zu geben und ihn richtig, gegebenenfalls auch neu, auszurichten.

Aus dieser Motivation heraus haben wir den OSZE-Vorsitz 2016 übernommen, in dem wir neben der Krisendiplomatie eben auch dieser ganz Europa und den Atlantik umfassenden Organisation neue Impulse zu geben versuchen. Demnächst mit einer Zusammenkunft der Außenminister in Potsdam.

Dazu gehört auch eine neue Rüstungskontrollinitiative, die wir anstoßen wollen. Die Zeit ist reif, um den Risiken einer neuen Rüstungsspirale neue Instrumente von Transparenz entgegenzusetzen. ‎Ich gebe allen Recht, die sagen: Kurzfristiger Erfolg ist wahrhaftig nicht gewiss. Aber ich glaube, es nicht zu versuchen, das wäre nicht verantwortlich. Ich bin davon überzeugt: Wir dürfen die Dinge nicht einfach laufen lassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie uns außer Kontrolle geraten. Sondern wir müssen den Risiken und Eskalationsgefahren verbindliche Regeln entgegensetzen. So schwierig es aktuell ist, und so lange es möglicherweise dauern wird, ich bin überzeugt: dass auch da, wo die tiefen Gräben zwischen Ost und West in den letzten Jahren sichtbar geworden sind, wir trotzdem an dem Versuch festhalten müssen, Brücken zu bauen. Ich bin davon überzeugt: alle Seiten verlieren jedenfalls, sollten wir uns in einen neuen Rüstungswettlauf zwischen Ost und West begeben.

Zu unserer Arbeit an der internationalen Ordnung gehört auch, auf einer ganz grundlegenden Ebene, die Kärrnerarbeit, die wir in den letzten Jahren in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik geleistet haben. Auch sie versteht sich als ein Stück Ordnungspolitik - für eine Welt, in der aus Unterschieden nicht Missverständnisse, aus Missverständnissen nicht Konflikte, aus Konflikten nicht Kriege werden.

Deutschland kandidiert für einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für die Jahre 2019/20, als Ausdruck der Bereitschaft der deutschen Diplomatie, Verantwortung zu übernehmen, aber auch als Ausdruck unseres Vertrauens in eine multilaterale internationale Ordnung. Und ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, schon jetzt für Ihren Einsatz für unsere Kandidatur, bei dem Sie unsere Sonderbotschafter unterstützen werden.

Ich will Ihnen auch nahelegen, der „2030-Agenda“ der Vereinten Nationen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dahinter stehen bemerkenswerte Erfolge der letzten Jahrzehnte, etwa in der Bekämpfung der absoluten Armut auf der Welt, die sich seit 1990 halbiert hat, oder der bemerkenswerte Fortschritt von Bildungs- und Gesundheitsversorgung in Teilen Asiens und Afrikas. Erfolge, die unseren Krisendiskurs in einen größeren Zusammenhang einordnen. Wenn man die Wahl hätte, den Zeitpunkt seiner Geburt auf dieser Welt selbst zu bestimmen, so hat es US-Präsident Obama in Hannover im April eindrücklich formuliert, dann würde man die Welt von heute wählen. Mit all ihren Krisen, ihren Ungerechtigkeiten, ihrer Unruhe. Dennoch in vielem die beste der Geschichte. Die 2030-Agenda formuliert ein ambitioniertes globales Transformationsprogramm, das Millionen Menschen Perspektiven auf ein besseres Leben eröffnet, und zu dem Deutschland und Europa viel beizutragen haben.

Drittens – und alles überragend - brauchen wir ein geeintes, starkes Europa. Die Europäische Union ist und bleibt der entscheidende Bezugsrahmen deutscher Außenpolitik. Für die deutsche Außenpolitik sage ich: Mit Europa spielt man nicht! Denn mit diesem Europa steht und fällt unsere Chance, gestaltend auf die globale Ordnung Einfluss zu nehmen. Ein geeintes Europa kann Magnet sein, die Mitgliedstaaten für sich allein sind kaum mehr als Eisenspäne in der Welt von morgen.

Die EU muss handlungsfähig sein in den entscheidenden Fragen unserer Zeit: bei Sicherheit und Außenpolitik, beim Umgang mit den Herausforderungen und Chancen von Flucht und Migration, und in Wirtschafts-, Wachstums- und Währungsfragen. Wir wollen eine „flexiblere Union“, die sich der großen Fragen wirkungsvoll annimmt, die aber nicht jeden Mitgliedstaat auf jeden weiteren Schritt gemeinsamen Handelns verpflichtet. Nicht der ist ein schlechter Europäer, der nicht von Anfang an bei jeder neuen gemeinsamen Initiative dabei ist. Es kann gleichzeitig aber auch nicht sein, dass diejenigen, die gemeinsam vorangehen wollen, an gemeinsamen Initiativen gehindert werden.

Genauso unerlässlich ist, dass wir es nicht zu einer Entfremdung der Europäer vom europäischen Projekt kommen lassen. Deshalb dürfen wir die Debatte über Europas Zukunft gerade jetzt nicht auf Brüsseler Sitzungssäle beschränken, auch nicht auf den Weltsaal des Auswärtigen Amts. Welches Europa wollen wir? Welche Erneuerung braucht es? Über diese Fragen müssen wir mit den Menschen in unserem Land beraten, diskutieren und wenn nötig streiten. Einen Rahmen dafür wollen wir in den nächsten Monaten mit Diskussionsforen, Townhall-Gesprächen und Bürgerwerkstätten zimmern – ganz im Geist unseres Review-Prozesses. Ich bin mir sicher: Bis zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März nächsten Jahres kann das wichtige Impulse setzen.

Es ist viel in den Kommentaren von Deutschlands neuer Rolle die Rede. Manche kritisieren sie als zu dominant. Andere, lieber Witold, wie Dein Vorgänger Radoslaw Sikorski haben angemahnt, dass die Deutschen ihre Führungsrolle endlich annehmen sollen.

Aus meiner Sicht ist die besondere Herausforderung für deutsche Außenpolitik nicht die Frage, ob Deutschland die Zentralmacht Europas ist, sondern ob Deutschland es mit seinen engsten Partnern versteht, eine politische Mitte zu schaffen und zu bewahren, aus der heraus ein gemeinsames, starkes Europa handeln kann.

Meine Damen und Herren,

In der Zeitschrift „Foreign Affairs“ habe ich im Frühjahr versucht, die Veränderungen der Rolle Deutschlands über die letzten 20 Jahre hinweg zu analysieren. Ich habe Deutschland darin als „Reflective Power“ beschrieben: Es ist ja nicht leicht, einen prägnanten und treffenden deutschen Begriff dafür zu finden: „Nachdenklich“ trifft es nicht wirklich, „grüblerisch“ nun erst recht nicht. Nein, „reflective“ steht vielmehr für ein waches Bewusstsein der fortdauernden Eigenheiten der deutschen Rolle. Aber auch für ein Selbstbewusstsein im besten, das heißt reflektierten Sinne: Wir sind bereit, jenseits unserer eigenen Grenzen und auch global mehr Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn wir diesen Status nicht aktiv angestrebt haben, sondern es eher die Veränderungen der Welt um uns herum waren, die uns in diese Rolle geführt haben, nehmen wir diese außenpolitische Verantwortung an.

In der Art und Weise, wie wir das tun, zeigen sich unsere besonderen historischen Erfahrungen. Dazu gehört auch das Wissen, dass es in derselben Realität oft mehrere Wahrnehmungen dieser Realität gibt, die miteinander konkurrieren. Dass, wie Kissinger gesagt hat, unterschiedliche Wahrnehmungen Teil der Realität sind, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Dass wir uns mit Blick auf die neuartigen Konflikte im Mittleren Osten und in Teilen Afrikas vereinfachende Schwarz-Weiß-Zeichnungen und „Gut und Böse“-Einordnungen in der Analyse möglichst nicht erlauben sollten. Das verstellt eher den Blick zur Lösung. Auch die Erfahrung, dass es keine Erfolgsgarantie für außenpolitische Bemühungen gibt, gehört zu diesen Erfahrungen. Dass aber in dieser krisenbefangenen Welt, in der wir leben, die fehlende Erfolgsaussicht niemals Rechtfertigung für den Verzicht auf neue Anstrengungen sein darf. Diese Erfahrungen und die Lehren, die wir aus den vergangenen Jahren gezogen haben, bilden das Fundament und den Rahmen für den Einsatz unserer außenpolitischen Instrumente.

Wir sind heute ein stärkerer Auswärtiger Dienst als vor drei Jahren. Aber darauf können und dürfen wir uns nicht ausruhen. Diplomatie ist ein Geschäft mit Zukunft – aber einfacher wird dieses Geschäft nicht. Ganz im Gegenteil. Nehmen Sie diese Herausforderung an. Und tun Sie es, wo und wie immer Sie können, an Ihren Dienstorten gemeinsam mit Ihren französischen und polnischen Kolleginnen und Kollegen.

Vielen Dank.

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