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Atomvertrag: „Die Rechtstreue ist ein wichtiger Punkt in der Außenpolitik“

20.10.2017 - Interview

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit dem Handelsblatt (20.10.2017). Themen: Atomvertrag mit Iran, transatlantisches Verhältnis, Brexit, Flucht und Migration.

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit dem Handelsblatt (20.10.2017). Themen: Atomvertrag mit Iran, transatlantisches Verhältnis, Brexit, Flucht und Migration.

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Es hat 13 Jahre gedauert bis der Atomvertrag mit Iran unterschrieben war. Jetzt droht US-Präsident Donald Trump damit, das Abkommen aufzukündigen. Wie ernst ist die Lage?

Ausgesprochen ernst. Ein Ende des Atomvertrags mit Iran ist derzeit die größte außenpolitische Gefahr. Die Welt wird nicht sicherer, sollte der Iran nach einem Scheitern des Atomvertrags die Entscheidung treffen, sich doch atomar zu bewaffnen. Denn Vertrag sichert ja gerade, dass keine Atombomben im Iran entwickelt werden. Und auch die unmittelbare Kriegsgefahr wird steigen, denn Israel hat ja immer angekündigt, einer atomaren Bewaffnung des Iran nicht tatenlos zuzusehen. Und all das passiert in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und in einer Region, in der es sowieso schon an allen Ecken und Enden brennt.

Warum beschwört Trump diesen Konflikt herauf?

Das Verstörende an dieser Politik der USA ist, dass es gerade nicht um Außenpolitik oder um eine neue und durchdachte Strategie gegenüber dem Iran geht. Sondern es geht um amerikanische Innenpolitik. Das Ziel Donald Trumps ist es, das zu zerstören, was unter seinem Vorgänger Obama mühevoll aufgebaut wurde: erst die Gesundheitsreform, dann das internationale Klimaabkommen und nun das Atomabkommen mit dem Iran. Außenpolitik wird damit degradiert zur Erfüllung der Wahlkampfpropaganda. Es gibt aber Gegengewichte in den USA: im Außenministerium ebenso wie im Verteidigungsministerium und vor allem im US Kongress. Darauf setzen wir jetzt.

Kann Trump das Abkommen überhaupt einseitig kündigen?

Die Amerikaner können das Abkommen nicht einseitig kündigen, da es im UN-Sicherheitsrat und daneben von der EU, Frankreich, den Briten, Russland, China und Deutschland beschlossen wurde. Aber Trump hat die Möglichkeit durch die Verhängung von Sanktionen gegen Iran, das Abkommen de facto zu zerstören.

Wie meinen Sie das?

Schon heute trauen sich viele deutsche und europäische Unternehmen nicht, Geschäfte im Iran abzuschließen, weil sie Angst haben, sofort wieder von nationalen US-Sanktionen betroffen zu sein. Denn diese US-Sanktionen richten sich auch gegen Unternehmen, die mit dem Iran wirtschaftliche Beziehungen unterhalten, aber auch in den USA tätig sind. Niemand wird dieses Risiko eingehen. Die Wirtschaft fürchtet, dass sich ihre Investitionen durch die unsichere politische Lage in Luft auflösen. Hinzu kommt, dass die meisten Unternehmen keine Kredite für Geschäfte mit Iran bekommen, da die internationalen Banken mit Blick auf das Verhalten der Amerikaner zurückhaltend sind. Wenn also Trump extraterritoriale Sanktionen verhängt, dann ist potentiell jede Bank, die Geschäfte in Amerika macht, davon betroffen. Meine Meinung ist: Diese Form von Sanktionen ist ein Angriff auf unser deutsches Exportmodell.

Wie erklären Sie sich das harte Auftreten der USA?

Zu allererst geht es, wie gesagt, um Innenpolitik. Dann aber spielen im Umgang mit dem Iran natürlich auch historische Erfahrungen eine große Rolle. Bis heute empfinden die USA die Ereignisse im Jahr 1979 als tiefe Demütigung. Wohl jeder in den USA erinnert sich an die Besetzung der US-Botschaft und die darauf folgenden, dort so wahrgenommenen Erniedrigungen. Umgekehrt erinnern sich die Iraner daran, dass es der Westen und die USA waren, die 1953 geholfen haben, die erste demokratische Entwicklung im Iran zugunsten der Diktatur des Schah zu beseitigen. Und als der irakische Diktator Saddam Hussein Giftgas im Krieg gegen den Iran eingesetzt hat, schauten den die USA und der Westen tatenlos zu. Es geht also auch um tiefes Misstrauen der beiden Länder.

Die USA werfen Iran vor, den gesamten Nahen Osten zu destabilisieren.

Ja, und diese Vorwürfe sind ja nicht unberechtigt. Nur macht es keinen Sinn, sie ausgerechnet mit dem Atomabkommen des Iran zu verknüpfen. Denn wenn dieses Abkommen zerstört würde, wird die Rolle des Iran ja noch schwieriger und die Sicherheitslage im nahen Osten auch. Die USA verknüpfen mit dem Abkommen Themen, die mit keinem Wort in dem Vertrag erwähnt werden. Nämlich zum Beispiel die Rolle des Iran bei der Finanzierung terroristischer Gruppen in der Region und die Unterstützung des syrischen Diktators Assad. Dieser Teil der Verhandlungen wurde bewusst vom Atomabkommen getrennt, damit die Vereinbarung überhaupt zustande kommen konnte. Und es sollte auch in Zukunft eine „Firewall“ zwischen dem Atomdeal und der berechtigten Kritik am Iran als Unterstützer von bei uns als Terrororganisation gelisteten Gruppen geben.

Was würde sich denn durch die Kündigung des Abkommens verändern?

Es steigt vor allem die Gefahr, dass sich die Hardliner in Teheran in ihrer Ansicht bestätigt sehen, dass man mit dem Westen eben keine Verträge schließen kann, weil diese nicht eingehalten werden. Die Rechtstreue ist ein wichtiger Punkt in der Außenpolitik. Ohne diese Rechtsverbindlichkeit könnten die meisten geopolitischen Konflikte nicht gelöst werden. Die Folgen eines Scheiterns der Atomvereinbarung wären insofern verheerend, dass die Diktatur in Nordkorea sich dann auch auf keine friedliche Lösung einlassen wird. Sollte es soweit kommen, steigt unmittelbar die Kriegsgefahr.

Lässt sich eine Eskalation noch verhindern?

Es gibt in der Politik immer eine Alternative. Aber von alleine kommt sie gewiss nicht. Wenn sich Nordkorea und der Iran in den Besitz von Atomwaffen bringen, werden andere diesem Beispiel vielleicht folgen. Dann leben unsere Kinder in einer viel gefährlicheren Welt als wir heute. Im Ost-West-Konflikt gab es zwei atomar bewaffnete Blöcke, die sich gegenseitig kontrolliert haben. Beschaffen sich alle möglichen Staaten Atomwaffen, dann gibt es diese Kontrolle nicht mehr. Und in Wahrheit gibt es nur zwei, vielleicht heute drei Länder, die das durch gemeinsames Handeln verhindern können: USA, Russland und China.

Nur trauen sich diese drei Länder gegenseitig nicht über den Weg.

Richtig. Wir sind ja gerade in Gefahr, selbst mitten in Europa zu einer neuen atomaren Aufrüstung zu kommen. Es geht deshalb um viel mehr als um den Iran oder Nordkorea! Alle Abrüstungsverträge der 80er Jahre sind dabei zu erodieren. Deshalb muss Europa jetzt seine Stimme erheben. Wir müssen die Stimme für Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und Abrüstung werden. Und so schwer es uns auch fallen mag: wir brauchen eine neue Entspannungspolitik zu Russland. Sonst wird das alles hier sehr, sehr gefährlich.

Brauchen wir nicht auch eine Entspannugnspolitik gegenüber Washington?

Europa braucht eine eigene Strategie, um mit US-Präsident Trump ins Gespräch zu kommen. Die drei Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben beschlossen, dass die Außenminister in Washington vermitteln und Möglichkeiten suchen sollen, wie man das Programm am Leben erhalten kann. Das ist schon mal ein wichtiger Anfang.

Wann treffen Sie Ihren US-Kollegen Tillerson?

Zunächst werde ich mich mit meinem britischen und französischen Kollegen zusammensetzten. Was die Reiseplanungen anbetrifft, muss ich natürlich auch die innenpolitischen Entwicklungen der nächsten Wochen berücksichtigen. Aber es ist leider so, dass die Krisen dieser Welt nicht auf deutsche Sondierungsgespräche warten. Deutschland braucht auch in dieser Übergangsphase außenpolitische Kontinuität und Verlässlichkeit. Daher bleibe ich auch über den 25. Oktober hinaus geschäftsführender Außenminister, der diese Themen in enger Abstimmung mit der Kanzlerin weiterhin bearbeitet Es hört sich vielleicht etwas pathetisch an, aber wir alle haben Verantwortung unserem Land gegenüber und müssen unsere Pflicht tun.

Hat Europa eine reelle Chance, Trump von der Aufkündigung des Iran-Abkommens abzuhalten? Bisher hat der US-Präsident wenig Rücksicht auf die Hinweise aus Europa genommen.

Wir dürfen nicht annehmen, dass Trump ein Laie sei oder keine Ahnung habe. Er hat einfach eine andere Agenda. Eine innenpolitisch getriebene Agenda. Das ist sein Leitfaden. Bei den Wahlen hat man gesehen: Es gibt in den USA die weit verbreitete Stimmung, dass Amerika in Gefahr sei. Und dass es jetzt darauf ankomme, es wirtschaftlich, politisch, kulturell wieder zu alter Größe zu führen. Dieser Überzeugung entspringt einen Rückwärtsgewandtheit. Eine Hinwendung zum Neoisolationismus.

Wie soll Deutschland auf diesen Politikwechsel reagieren?

Zuerst müssen wir verstehen, was in den USA vorgeht. Das Land, das seit seiner Entstehung Vorreiter der Moderne war, hat nun eine Regierung, die die Anti-Moderne vertritt. Statt Weltoffenheit, nun Abschluss von der Welt. Statt gemeinsamer Verantwortung, jetzt „America first“. Statt Weltoffenheit nun Abschottung von der Welt. Statt gemeinsamer Verantwortung jetzt „America first“. Statt fairen weltweiten Handels nationale Deals. Statt der Stärke des internationalen Rechts das internationale Recht des Stärkeren. Die Missachtung des Vertrags, die Verachtung von Verhandlungsprozessen und vom Versuch einen Interessenausgleich zu finden, ist nur die Konsequenz aus dieser grundsätzlichen Richtungsänderung der US-Regierung.

Die Sorgen wegen der Trump-Präsidentschaft haben sich also bestätigt?

Donald Trump ist der Vertreter der Anti-Moderne. Er behauptet gegenüber den verunsicherten, abgehängten oder von Abstiegsängsten getriebenen Wählern, dass er sie vor den Anstrengungen der modernen und vernetzten Welt mit dem Rückzug auf die schützenden Mauern des Nationalismus vor den der Moderne schützen kann. Ausgerechnet das Land, das uns Deutsche und Europäer nach dem zweiten Weltkrieg in die westliche Ordnung eingebunden und damit seit 70 Jahren verhindert hat, dass es in Deutschland oder Europa wieder zu reaktionären Konterrevolutionen wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts kommt, ausgerechnet in diesem Land verbreiten sich jetzt reaktionäre Ideen.

Was macht die Anti-Moderne aus?

Ich bin sicher: wir sind mitten in einem Gezeitenwechsel. Der Zyklus einer weitgehend akzeptierten und sogar vorangetriebenen globalisierten Moderne ist zu Ende gegangen. Nicht zuletzt ihre Regellosigkeit hat eine anti-moderne Gegenbewegung provoziert. Sie glaubt durch den Rückzug ins Nationale wieder Sicherheit zu schaffen. Sie will sich abgrenzen, schafft Ersatz für verloren gegangene Identitäten durch Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie sehnt sich nach Ordnung, alten Lebensmustern und ist gegen zu viel Unterschiedlichkeit. Und die globalisierte Moderne ist verdammt unübersichtlich und schafft große Unsicherheiten.

Dieses Gedankengut verbreitet sich weltweit.

12 Millionen Wählerinnen und Wähler haben in Frankreich nicht für Macron, sondern für Le Pen gestimmt. In Deutschland waren es Gott sei Dank nicht so viele, aber diese Anti-Moderne gibt es bei uns auch – nicht nur auf der äußeren Rechten, sondern in Teilen auch auf dem linken Spektrum. Denken Sie nur an den zum Teil ja völlig irrationalen Widerstand gegen Freihandelsabkommen in einem Land wie Deutschland, das vom Handel lebt. Angesichts von Trump wären wir heute froh, wenn wir Abkommen und Regeln hätten. Wenn Sie mich nach den Ursachen für die Wahlniederlage von CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl fragen: genau hier liegt die eigentliche Ursache.

Und sicher auch im Umgang mit der Flüchtlingskrise.

Der Gezeitenwechsel hat sich viel länger angekündigt. Durch Wahlenthaltung, Politik- und Politikerverachtung und Abwendung. Gezeitenwechsel gehen langsam voran und haben eigene Flaggensignale. Die Verunsicherung durch die Flüchtlingszuwanderung war dann am Ende der Katalysator für die Emotionen dieser Anti-Modernen. Und wenn wir ehrlich sind, dann haben die Vertreter der Moderne noch keine ausreichende Antwort. In meiner Partei wird viel über Neuaufstellung diskutiert. Im Kern geht es aber darum, auf genau diese Herausforderung eine neue und glaubwürdige Antwort zu geben.

Wie kann diese Antwort aussehen?

Sie ist aus meiner Sicht weniger eine Antwort im alten „Links-rechts-Schema“ der Politik. Sondern es geht eher um sozial-liberale Antworten: Sozial im Sinne von Sicherheit, Fairness, Solidarität, gerechter Teilhabe. Und liberal im Sinne von Weltoffenheit, Neugier und Freude auf Unterschiedlichkeit, Ablehnung von geistiger Enge, Dogmatismus und Unversöhnlichkeit. Aber auch liberal im Sinne internationale Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.

Sie umschreiben die Ideale, für die auch Amerika einst stand.

Ich gehörte zu einer Generation, die massive Kritik an den Vereinigten Staaten geübt hat. Aber letztlich wussten wir immer: Diese Idee einer westlichen Ordnung, einer Herrschaft des Rechts wurde von den Amerikanern garantiert. Wenn sich die Amerikaner davon verabschieden und das Recht des Stärkeren propagieren, dann werden wir Europäer das Vakuum nicht alleine füllen können. Dann werden andere auf den Plan treten. China und die neue Seidenstraße – mit einer ganz anderen geopolitischen Strategie. Darum würde ich dringend raten, unsere Brücken nach Amerika nicht abzubrechen.

Gerade für die deutsche Wirtschaft steht viel auf dem Spiel. Die USA verhängen Sanktionen gegen Iran und Russland – und wollen diese auch gegen europäische Unternehmen anwenden. Wie sollen wir mit dieser brutalen Wirtschafts- und Handelspolitik umgehen?

Das tragische ist, dass davon alle Schaden nehmen, auch die Amerikaner. Diese Politik bleibt ja nicht ohne Folgen, auch für die USA. Ein Beispiel: Wenn die Amerikaner keinen Stahl aus Europa mehr reinlassen, könnte Europa überlegen, zum Beispiel die Einfuhr von Orangensaft blockieren. Ich bin jedenfalls sicher, dass Europa dann nicht hilflos und ohne Reaktion zuschauen wird.

Das soll Trump beeindrucken?

Zugegeben, so habe ich auch reagiert, als ich das zu erstem Mal gehört habe. Aber Orangensaft kommt aus Florida, europäische Einfuhrschranken würden Florida in unglaublichem Maße treffen.

Ein Bundesstaat, den Trump unbedingt halten muss, wenn er sein Amt verteidigen will.

Was ich sagen will: Eine Spirale von Zöllen und Sanktionen führt zu nichts außer einem Verlust an Wohlstand. Darum glaube ich, dass wir alles tun müssten, um neue Sanktionen zu verhindern. Die protektionistische Gefahr aus Washington ist noch nicht gebannt. Wir sehen das bei den von Ihnen angesprochenen Sanktionen gegen Russland und womöglich auch bei Einführschranken gegen China. Und wir sehen, was bei dem bei in den Nafta-Gesprächen mit Mexiko und Kanada passiert.

Europa mahnt, scheint aber ziemlich ratlos zu sein.

Es gibt für uns zwei Strategien. Erstens, wir müssen in die amerikanischen Bundesstaaten gehen, wo es deutsche Unternehmen gibt und zeigen, welche Vorteile gerade diese Regionen am offenen Handel haben. Wir müssen die Facharbeiter einladen und mit den Kongressabgeordneten, die sie vertreten, reden. Die zweite Strategie ist es, Europa zu stärken. Europa hat einen echten Nachteil: Es wird nicht nur in Washington zu wenig ernst genommen, sondern auch in Moskau und Peking nicht.

Bei den Russlandsanktionen hat es Europa nicht geschafft, die eigenen Argumente durchzusetzen.

Die Russland-Sanktionen sind nicht von der Regierung, sondern vom Kongress vorgeschlagen worden. Auch da sind wir wieder in der Innenpolitik: Es gibt ein einigendes Band zwischen Republikanern und Demokraten im Kongress, die sagen, dass Trump zu viele dubiose Verbindungen nach Russland habe. Deshalb wollen sie ihn einhegen. Hier sind es eher Trump und seine Administration, die versucht, die Sanktionen zu dämpfen.

Muss man nicht klar sagen: Diese exterritorialen Sanktionen sind völkerrechtswidrig?

Mit diesem Argument allein werden sie aber nicht weit kommen, wenn Amerika zu der Überzeugung kommt, dass internationale Rechtsgrundlagen nicht mehr wichtig sind.

Bietet Trumps Politik des Rückzugs für Europa nicht auch Chancen? Nachdem die USA den pazifischen Freihandelspakt TPP beerdigt haben, sind Japaner und Australier ganz wild darauf, mit Europa ins Geschäft zu kommen.

Das stimmt, aber es wird nicht einfach, da es auch Unterschiede zu diesen Ländern gibt. Denken Sie nur an die Debatten um den Investitionsschutz. Dennoch müssen wir diese Chancen nutzen, gerade wir Deutschen. Wir bauen mehr Autos, mehr Windturbinen als wir selber brauchen. Wir sind die Industrialisierer der Welt. Wir dürfen keine Angst vor dem Freihandel haben, das ist unser Wohlstandsmodel.

Etliche SPD-Politiker sind da anderer Meinung.

Ich bin auch nicht der Ansicht, dass wir alles unterschreiben sollten. Es steht auch viel in den Freihandelsabkommen, das nicht in unserem Sinne ist. Aber dieser prinzipielle Widerstand gegen freien Handel ist falsch. Sozialdemokraten wissen eigentlich, dass der Fortschritt Schritt für Schritt kommt und nicht von heute auf morgen.

Zurzeit erleben wir eher Rückschritt als Fortschritt.

Präsident Trump ist nicht Amerika. Schauen sie sich einmal die demographische Entwicklung der USA an. Es dauert nicht mehr lange, dann hat die Mehrheit der Amerikaner nicht mehr europäische Wurzeln. Die Bevölkerungsanteile lateinamerikanischer und asiatischer Herkunft und die afroamerikanische Bevölkerung nehmen zu. Diese Amerikaner halten von der Politik der Abkehr von der Welt und Homogenität nicht viel. Das ist das neue Amerika. Daher bin ich mittelfristig gar nicht so pessimistisch.

Die verunsicherte deutsche Wirtschaft tröstet das kaum. Schon jetzt sind milliardenschwere Investitionspläne durch das amerikanische Sanktionsregime in Gefahr.

Natürlich ist es verständlich, dass große deutsche Industriekonzerne, die Geschäftsinteressen in den USA haben, nicht auf der Sanktionsliste der US-Regierung landen wollen. Europa muss auf diese Fragen eine Antwort finden und strategiefähiger werden. Europa ist einst nach innen gegründet worden – um nach innen Frieden und Wohlstand zu schaffen. Jetzt muss es lernen, nach außen zu agieren.

Das gilt auch für die Bundesregierung.

Das ist richtig. Die deutsche Außenpolitik, das Auswärtige Amt muss an einer USA-Strategie arbeiten. Wir haben soetwas für Russland und China. Für Amerika werden wir eine entwickeln müssen. Und Europa auch.

Welche Rolle kann Europa zwischen den großen Machtpolen spielen? Die des Mittlers – eine Schweizer Rolle?

Gerade nicht. Nichts gegen die Schweiz, aber wir sind ja gerade in Gefahr zu einer großen Schweiz zu werden. Wir haben die Kraft und die Verantwortung unsere Interessen und Positionen auch deutlich zu vertreten.

Hat Frankreichs Präsident Macron das Potenzial, Merkel als Schutzherrin Europas abzulösen?

Im Moment steht es schon zehn zu Null für Frankreich. Wenn wir so weitermachen, demnächst 12 zu Null. Die deutsche Politik, sehr getrieben von finanzpolitischer Orthodoxie, hat zu viel Scheu sich in die Nähe von Frankreich zu begeben.

Wenn es darum geht, Europa zu stärken, muss man doch bilanzieren: Der Brexit ist ein Riesenrückschritt.

Das Problem ist, dass die britische Regierung nicht weiß, was sie will. Die Konservativen träumen ja von einer Bindung an die USA, sie wollen an das besondere Verhältnis der angelsächsischen Staaten anknüpfen. Ich kann nur sagen: Be careful. Wenn die Mehrheit der Amerikaner aus Lateinamerika, Afrika und Asien stammt, wird diese Beziehung auch lockerer werden. Es war Obama, der erstmals erklärt hat, Amerika sei eine pazifische Nation. Deshalb: Die Zukunft Großbritanniens liegt in Europa.

Hat Kanzlerin Merkel noch den Willen und die Kraft Europa entscheidend weiterzuentwickeln?

Die Kanzlerin hat in der Flüchtlingskrise das Maß an Liberalität ausgereizt, das man in der Union haben kann. Und es wird mit der FDP nicht einfacher. Europabezogen hat Christian Lindner einen Wahlkampf gemacht, der an die eurokritischen Positionen des AfD-Gründer Bernd Lucke angeknüpft hat – sehr nationalliberal. Ich wäre froh, wenn es in der CDU mehr Helmut Kohl gäbe. Der wusste doch, dass es neben der Währungs- auch eine politische Union braucht. Europas Stärke ist unsere einzige Chance in dieser Welt. Unsere Kinder werden keine Stimme haben, es sei denn, es ist eine gemeinsame europäische.

Hand aufs Herz: Wie sehr schmerzt der Abschied aus der großen Politik?

Ich bin sehr gerne Außenminister. Aber meine Frau hat gesagt: Du kennst doch den alten Spruch: Wenn es am Schönsten ist, soll man aufhören. Leider hat sie Recht.

Herr Gabriel, vielen Dank für das Interview.

Interview: Sven Afhüppe, Moritz Koch und Thomas Sigmund.

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