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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei den „Berliner Korrespondenzen“ im Gorki-Theater, Berlin

22.05.2016 - Rede

Liebe Shermin Langhoff,
lieber Jan-Hendrik Olbertz,
sehr geehrter Prof. Mbembe und Prof. Chakrabarty,
liebe Gäste!

Auch von meiner Seite ein herzliches Willkommen zur ersten der “Berliner Korrespondenzen„.

Und ein herzliches Willkommen vor allen Ihnen, lieber Achille Mbembe und lieber Dipresh Chakrabarty!

Der heutige Tag ist ja eine Premiere, und allen Premieren, zumal im Theater, haftet eine Spannung an, was da wohl kommen mag und ob es gelingen wird. Ganz offen gesagt, so geht es auch mir als einem der drei Partner, die die “Berliner Korrespondenzen„ ins Leben gerufen haben.

Diese Veranstaltungsreihe ist ein Wagnis.

- Ein Wagnis der Zusammenarbeit zwischen drei sehr unterschiedlichen Partnern, dem Gorki-Theater, der Humboldt-Universität und dem Auswärtigen Amt.

- Ein Wagnis für alle Referentinnen und Referenten, die von weit her nach Berlin gekommen sind, so wie Sie heute Prof. Mbembe und Prof. Chakrabarty, die sich gemeinsam mit uns der Frage nach den Kräften stellen, die die großen tektonischen Verschiebungen unserer Ordnungsmodelle und -vorstellungen bewirken.

- Und ein Wagnis für Sie, das Publikum, die Sie sich einlassen, indem Sie Anteil nehmen an diesem vielschichtigen Austausch über Innen und Außen, Verbindendes und Trennendes.

***

Letztlich soll diese Reihe auch ein Wagnis für uns in der Außenpolitik sein!

Wie groß, das mögen Sie daran erkennen, dass ich tatsächlich mit Böhmermann beginne. Ja, dieser Böhmermann, aber nein: nicht das vielzitierte Gedicht. Es gibt auch gute Texte von ihm. Einen sehr viel klügeren Text zum Beispiel, der vom Bild Deutschlands in der Welt handelt und auch von Deutschlands Rolle in der internationalen Ordnung und der es immerhin in die New York Times geschafft hat!

Wake up, Deutschland, sleeping beauty

Can you hear your call of duty

The world has gone completely nuts

That’s why we’re back to help, mein Schatz!„

Und später heißt es dann:

We are no longer murderous vandals! –

Be nice! Or we’ll come for you in socks and sandals.

***

Was hier in Rammstein-Sprache angedeutet ist, würde ich in außenpolitischer Sprache so ausdrücken: Von Deutschland ist im 20. Jahrhundert die Zerstörung einer ganzen Ordnung ausgegangen, und zwar nicht nur einer politischen, sondern –im Holocaust- einer zivilisatorischen Ordnung. Und trotzdem ist es diesem Land vergönnt gewesen, in den vergangenen 70 Jahren behutsam und schrittweise wieder hineinzuwachsen ins Herz der internationalen Gemeinschaft und ein wichtiger Knotenpunkt zu werden im Netz der internationalen Beziehungen.

- wiedervereint und politisch fest verankert in der Europäischen Union und den Vereinten Nationen.

- wirtschaftlich stark, auch dank unserer Exporte in die ganze Welt.

- angesehen und manchmal sogar beliebt bei unseren internationalen Partnern.

- sogar Fußball-Weltmeister ...

Aber was heißt das für unser Engagement in der Welt? Ich glaube: Gerade weil wir heute so sehr von unserer Einbindung in die internationale Ordnung profitieren, müssen wir umso mehr tun für den Erhalt und die Weiterentwicklung dieser Ordnung – gerade jetzt, wo die Welt aus den Fugen geraten scheint.

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“The world has gone completely nuts.“ – „Völlig durchgedreht“.

So scheint es zumindest aus Sicht von vielen in Deutschland und im Westen. Darin drückt sich das Paradox der internationalen Ordnung aus, mit dem wir es derzeit zu tun haben.

Nach dem Ende des Kalten Kriegen dachten viele im Westen: Die Frage der internationalen Ordnung ist erledigt! Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs war die Welt strikt zweigeteilt: Ost und West, zwei Blöcke, zwei Ideologien. Doch 1989/90 haben Freiheit und Demokratie gesiegt – nun beginnt ihr Siegeszug in der ganzen Welt. Ein besonders kühner Bestseller sprach sogar vom „Ende der Geschichte“.

Heute stellen wir fest: Ganz so war es dann doch nicht... Im Gegenteil: Die Krisen und Konflikte überschlagen sich heute geradezu, und das ist kein Zufall. Sondern da entlädt sich das Ringen um Vorherrschaft, das Kräftemessen zwischen alten und neuen Mächten, zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, mit einer Vielzahl von Interessen, Ambitionen, Ideologien.

Und im Westen fragt man sich: Was ist da eigentlich los? Wo ist denn das multipolare, liberal-demokratische Zeitalter, auf das wir nach dem Mauerfall gehofft haben? Wer hat diese Hoffnung zerstört? Wer ist schuld? Seltener die Frage: Haben wir im Westen was falsch gemacht? Oder kapieren die anderen einfach nicht, was gut ist für die Welt?

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Bei genau diesem Paradox setzt unsere Veranstaltungsreihe an.

Denn: Die Frage der internationalen Ordnung ist bei weitem noch nicht beantwortet. Sie ist vielleicht sogar noch nicht mal richtig gestellt worden! Das wollen wir in dieser Reihe nachholen: Fragen stellen, also eben auch eigene vorgebliche Gewissheiten in Frage stellen. Und das nicht im Selbstgespräch und in eitler Selbstbespiegelung, sondern im Gespräch mit Menschen, die aufgrund von Geographie, Geschichte und Traditionen einen ganz anderen Blick auf die Welt haben.

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Ich will zum Auftakt nur ein paar Fragen in den Raum werfen, die mich umtreiben.

Erstens: Über welche Ordnung sprechen wir? Müssten wir nicht eigentlich von vielen Ordnungen statt von „der“ internationalen Ordnung sprechen? Nachbarschaftliche, kommunale, nationale, regionale, globale Ordnungen – sie alle existieren gleichzeitig. Wie verhalten sie sich zueinander?

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Zweitens: Was sind nicht nur die faktischen Ordnungen, die existieren und oftmals konkurrieren, sondern welche Vorstellungen von Ordnungen existieren?

Eine kleine Geschichte dazu: Ein Journalist erzählte mir, wie er im Frühjahr 2014 auf die Krim gereist ist. Das war genau während der Annexion der Krim durch Russland. Die Separatisten hielten damals ein völkerrechtlich nicht konformes Referendum zur Abspaltung ab. In den Tagen vor dem Referendum sah der Journalist ein Wahlplakat quer über die Stadt verteilt [aufzeigen]: vor rotem Hintergrund das Konterfei von Wladimir Putin und darunter nur ein einziges Wort: „Porjádok“! Russisch für ‚Ordnung‘! Hier steht sicherlich eine ganz andere Vorstellung, ein anderes Versprechen von ‚Ordnung‘ im Raum, geradezu gegensätzlich zu den unseren! Und das Beispiel zeigt: Ordnung ist kein selbsterklärender Begriff, keine Kategorie mit einem auch nur annähernd unumstrittenen Wesenskern.

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Deshalb drängt sich die dritte Frage auf: Welche Ordnung wollen wir? Den Deutschen wird ja gern der Satz zugeschrieben: „Ordnung muss sein“. Doch genau diese Haltung hilft nicht weiter. Ordnung ist kein Selbstzweck. Sondern wer nach Ordnung ruft, muss dazusagen: Ordnung wofür eigentlich?

Wenn Sie mir als Sozialdemokraten erlauben, nur einmal in dieser Rede Willy Brandt zu erwähnen: Der schrieb schon 1979 einen geradezu visionären Text, den Bericht der sogenannten „Nord-Süd-Kommission“.

In dem sagt Brandt: Die Welt braucht eine Ordnung für Frieden und Gerechtigkeit. Denn in einer globalisierten Welt gibt es Gerechtigkeit nicht ohne Frieden, und nachhaltigen Frieden nicht ohne Gerechtigkeit. Ich finde: Gerade wir Deutschen tun im internationalen Kontext gut daran, die Werte klar zu benennen, für die wir in einer internationalen Ordnung streiten. Aber gleichzeitig müssen wir ein Auge und ein Ohr dafür haben, wonach andere Akteure in ihren Ordnungsvorstellungen suchen . Und: dass unsere Vorstellung von Ordnung in anderen Gesellschaften Grund für Unordnung sein kann.

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Die vierte Frage ist: Was ist eigentlich Ordnung? Wie haben wir uns das vorzustellen: als statisches Gebäude, als Blaupause, die Regierungschefs oder Außenminister in streng abgeriegelten Konferenzhotels am Reißbrett entwerfen? Als Summe von Regeln, Institutionen und Völkerrecht? Sicher nicht! Sondern Ordnung wird erst dann real, wenn sie gelebt wird. Und das heißt: im Grundsatz akzeptiert auf der einen, aber eben auch veränderbar auf der anderen Seite.

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Das führt mich zur fünften und letzten Frage, die eine Ebene tiefer liegt: Worauf gründen Ordnungen? Was legitimiert Ordnungen?

Auch hierzu am Ende eines kurze Geschichte: Ein befreundeter Außenminister sagte am Rande der letzten VN-Generalversammlung zu mir: „Fußball, Autos, Bier – ich mag Euch Deutsche. Aber eines verstehe ich nicht: Ihr Deutschen geht bei Rot nicht über die Straße, auch wenn weit und breit kein Auto kommt. Das könnte ich meinen Leuten nie beibringen. Und im Übrigen: – wieso auch?“

Das mag eine triviale kleine Anekdote sein, aber dahinter liegt doch die Frage: Woher beziehen Ordnungen, Regeln, Institutionen eigentlich ihre Legitimität und Akzeptanz? Wo liegen kulturelle Unterschiede? Was sind die Geschichten und Erzählmuster, die Träume und Traumata von Gesellschaften, die die politischen und sozialen Verhältnisse über die faktische Ordnung hinaus begründen?

Gerade hierzu kann diese Veranstaltungsreihe einen großen Beitrag leisten! Denn wir müssen eintreten in einen Prozess der Aushandlung zwischen diesen Narrativen und Erzählmustern, einen Prozess, der Voraussetzung dafür ist, dass wirklich gemeinsame Ordnungsvorstellungen zu vorstellbar werden. Und deswegen bin ich überzeugt: Diese Reihe ist nicht nur eine intellektuelle Trocken-Übung, sondern ist selbst Teil der schwierigen Arbeit an einer gemeinsamen Ordnung, die in der Lage ist, Neues aufzunehmen, Fehler zu korrigieren und das dabei Grundsätzliche eher wahrt als in Frage zu stellen.

Deshalb ist es nur natürlich, dass wir ausgerechnet in einem kulturellen Zusammenhang über globale Ordnung und Unordnung nachdenken. Kultur, das ist eben auch der Streitraum, in dem diese Fragen dramatisiert und verhandelt werden.

„Theater muss ein Streitraum sein“, hast Du, liebe Shermin, am vergangenen Wochenende noch einmal für Dein Haus gesagt! Denn dieses Haus hier steht in einer besonderen demokratischen und weltoffenen Tradition von 1848 und diese pflegst Du an diesem Ort. Dafür danke ich, danken wir sehr!

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