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Rede von Bundesminister Westerwelle beim Forum des Goethe-Instituts zum Thema „Illusion der Nähe? - Ausblicke auf die europäische Nachbarschaft von morgen“

29.10.2010 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Professor Lehmann,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Exzellenzen,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Europäische Union steht in diesen Monaten vor der größten Bewährungsprobe ihrer bisherigen Geschichte. Die Finanzkrise, die im Frühjahr in Griechenland ihren Ausgang nahm, rüttelt an den Grundfesten der Integration. Sie wirft die Frage auf nach dem Selbstverständnis Europas weit über das ökonomisch-monetäre hinaus.

Deshalb beglückwünsche ich Sie zu der Idee, den Zustand und die Zukunft des Projektes Europa gerade jetzt aus ganz unterschiedlichen und mitunter ungewöhnlichen Perspektiven zu beleuchten, wie das in den vergangenen drei Tagen geschehen ist.

Dass Sie den Zugang zu dieser Diskussion über den Begriff der Nachbarschaft gewählt haben, wird der Natur und dem Wesen Europas sehr gut gerecht.

Seit den geschichtlichen Anfängen ist Europa mehr als jede andere Weltregion geprägt vom Nebeneinander ganz unterschiedlicher Völker, Kulturen und Sprachen.

Zu diesem Nebeneinander, zu diesen Nachbarschaften haben, eigentlich von Anfang an, immer auch Reibungen gehört.

Reibungen, die vielfach positive Energie freigesetzt haben. Gerade der Austausch und Wettbewerb unter unterschiedlichen Kulturen hat Europa beispiellose Epochen der Hochblüte beschert, in der Wissenschaft, bei den Künsten, auch wirtschaftlich.

Reibungen haben Europa aber auch immer wieder in ungeahnte Abgründe geführt. Die Geschichtsbücher der europäischen Nationen sind voll von Kriegen zwischen Nachbarn. Abgrenzung nach außen und Ausgrenzung im Innern haben unermessliches Leid über die Menschen Europas gebracht, bis hin zu jenem Weltenbrand und Zivilisationsbruch, den das nationalsozialistische Deutschland ausgelöst hat.

Dass auf der Asche des Zweiten Weltkriegs ein neues Europa erwachsen konnte, im Geiste der Versöhnung und der Gemeinschaft, das ist eine kaum zu ermessende historische Leistung der europäischen Staatsmänner jener Zeit. Sie schafften es, aus dem erbitterten Gegeneinander nicht nur ein neutrales Nebeneinander zu machen, sondern ein dynamisches Miteinander. In Europa haben wir seither gelernt, Nachbarschaft zuallererst als Bereicherung und Chance zu begreifen. Niemand hat davon mehr profitiert als wir Deutschen.

Deutschland hat neun unmittelbare Nachbarn. Für jeden einzelnen von ihnen gilt: nie in der Geschichte war unser bilaterales Verhältnis besser als heute. Und für unsere mittelbaren Nachbarn in Europa gilt das übrigens nicht weniger. Das ist ein Verdienst der europäischen Einigung.

Europa ist für unsere Generation ein kostbares politisches Erbe, mit dem wir verantwortlich umgehen müssen. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, es einfach zu verwalten. Sondern wir müssen Europa ausbauen, wo es noch unvollständig ist, und wir müssen es bewahren und schützen, wo es in Frage gestellt wird.

Europa wird heute vielfach herausgefordert, von innen und von außen. Die Globalisierung und der Aufstieg neuer Mächte, die Wirtschafts- und Finanzkrise, der demographische Wandel und die Gefahr einer Renationalisierung sind nur einige der Phänomene, auf die wir reagieren müssen. Das Modell Europa steht auf dem Prüfstand.

Um Europa zukunftsfest zu machen, sind nach meiner Überzeugung drei Aufgaben vordringlich. Erstens geht es darum, Europas innere Einheit zu vollenden und zu verhindern, dass auf unserem Kontinent neue Trennlinien entstehen. Zweitens müssen die Lehren aus der Krise gezogen und die EU mit einer robusten Wirtschafts- und Finanzverfassung ausgestattet werden. Und schließlich gilt es, die ureuropäischen Werte der Toleranz und Weltoffenheit gegen alle Angriffe zu verteidigen und Versuchungen zur Renationalisierung zu widerstehen.

Eine große Aufgabe, die vor uns liegt, ist die Vollendung der Integration der neuen EU-Mitglieder in Mittel- und Osteuropa.

Die gelungene Aussöhnung mit unseren Nachbarn im Westen und die engen Beziehungen, die uns mit diesen Ländern verbinden, sind uns dabei Vorbild.

Gerade unser Verhältnis zu Frankreich ist eine Nachbarschaft „par excellence“. Diese weltweit beispiellose Verflechtung zweier ehemals verfeindeter Länder und Gesellschaften ist ein Verdienst vieler Menschen beiderseits des Rheins, und ganz gewiss nicht nur der Politiker. Im Gegenteil: es sind vor allem die Schüler und Studenten in den Austauschprogrammen, es sind unzählige Städtepartner, es sind Kulturschaffende, die die deutsch-französische Freundschaft zu einem gelebten Stück Europa machen.

Um einem Missverständnis gleich vorzubeugen: das heißt nicht, dass wir uns jetzt in allem ähnlich und immer der gleichen Meinung sind. Aber das hat dazu geführt, dass wir die Sichtweise des jeweils anderen besser verstehen und von vornherein berücksichtigen können.

Dieses gegenseitige Verständnis, diesen Grad an Integration und diese Dichte der Zusammenarbeit wollen wir nun auch mit unseren östlichen Nachbarn erreichen. Die Aussöhnung mit Polen bleibt unsere historische Aufgabe.

Die deutsch-polnische Partnerschaft ist mittlerweile für den Erfolg der europäischen Integration ähnlich bedeutend geworden wie die Kooperation zwischen Deutschen und Franzosen.

In den vergangenen zwanzig Jahren ist mit Polen eine Partnerschaft mit einem dichten Netz gesellschaftlicher und politischer Bindungen erwachsen.

Die Kontakte auf politischer Ebene sind intensiver denn je. Nächste Woche werde ich gemeinsam mit dem polnischen Außenminister Radek Sikorski nach Minsk reisen. Im Vorfeld der dortigen Präsidentschaftswahlen wollen wir gemeinsam ein Zeichen setzen zugunsten freier und fairer Wahlen und zugunsten eines europäischen Kurses in Weißrussland.

Einen Tag später werden Radek Sikorski und ich gemeinsam an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder an einer Konferenz zum 20. Jahrestag des deutsch-polnischen Grenzvertrages teilnehmen. Der Titel ist zugleich unsere Handlungsmaxime: „Oder-Neiße-Grenze: Vom Trennenden zum Verbindenden“.

Das Jubiläum unseres Nachbarschaftsvertrages 2011 wollen wir zu einer gemeinsamen Erklärung nutzen, in der wir nicht nur das Erreichte würdigen, sondern vor allem Kooperationsfelder für die Zukunft benennen wollen. Wie jetzt schon im Verhältnis zu Frankreich ist auch unsere bilaterale Zusammenarbeit mit Polen darauf bedacht, zugleich Europa im Ganzen voranzubringen.

Diesem Ziel sind seit jeher die gemeinsamen Treffen Frankreichs, Polens und Deutschlands im Rahmen des Weimarer Dreiecks verpflichtet.

Hans-Dietrich Genscher hat dieses Format 1991 als Klammer der Integration zwischen West und Ost in Europa ins Leben gerufen. Wir haben das Format mit einem Außenministertreffen im Frühjahr dieses Jahres in Bonn neu belebt, 2011 soll es auf Staatspräsidenten- und Regierungschefebene Europa Impulse geben.

Damit die deutsch—polnische Freundschaft tiefe Wurzeln schlagen kann, reichen Begegnungen auf politischer Ebene nicht aus. Wir brauchen einen breiten zivilgesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Dabei setzen wir auch in Zukunft auf das Goethe-Institut und unsere kulturellen Mittler.

Nicht nur mit Polen, auch mit der Tschechischen Republik, mit der Slowakei und Ungarn verbinden uns enge historische Beziehungen, und dies nicht erst seit 1989. Wir teilen gemeinsame Werte und sehr oft auch gemeinsame Interessen. Diese Länder stehen beispielsweise für die gleiche Stabilitätskultur wie Deutschland. Deshalb wollen wir den Dialog mit den Višegrad-Staaten zu den wichtigen europapolitischen Herausforderungen intensivieren.

Unsere traditionell enge Verbundenheit mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen birgt vielfältiges Potenzial, auch im sicherheitspolitischen Dialog. Dieses Potenzial wollen wir verstärkt nutzen.

Am Beispiel der baltischen Staaten lässt sich zugleich ein Fundament des europäischen Erfolgsmodells festmachen. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind unabhängig von ihrer Größe ebenbürtig und gleichberechtigt. Jedes Land schuldet jedem Land Respekt. Deshalb war es mir auch so wichtig, noch in meinem ersten Amtsjahr alle unsere Partner in der EU bilateral zu besuchen.

Mit allen unseren EU-Partnerländern in Osteuropa verbindet uns ein gemeinsames Ziel. Wir wollen dafür sorgen, dass die Grenzen Europas, die sich mit der EU-Erweiterung nach Osten verschoben haben, nicht zu Trennlinien werden. Das ist eine europapolitische Kernaufgabe.

Uns geht es um die Schaffung eines gesamteuropäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit, des Rechts und des Wohlstandes, einen Ring aus befreundeten Nachbarn. Das ist das Ziel der von Polen und Schweden 2008 initiierten Östliche Partnerschaft. Sie soll die Ukraine, Weißrussland, Moldau sowie Armenien, Azerbaidschan und Georgien schrittweise an Europa heranführen.

Es geht hier nicht um die Frage, ob oder wann eines dieser Länder der EU beitritt. Sondern es geht darum, Gesellschaften in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf dem Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit, zu besserer Regierungsführung und wirtschaftlicher Erneuerung zu unterstützen. Das liegt auch im europäischen Interesse.

Eine für alle vorteilhafte Dynamik könnte auch die Schaffung eines paneuropäischen Raumes des Freihandels auslösen. Warum nicht ein gemeinsamer Wirtschaftsraum zwischen der EU, den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland?

Die positiven wirtschaftlichen Erfahrungen, die wir entgegen vieler Bedenken mit der Osterweiterung der EU gemacht haben, sollte uns hier ermutigen.

Doch das gesellschaftliche und wirtschaftliche Potenzial dieser Region kann sich letztlich nur richtig entfalten, wenn wir auch einen grundlegenden Neubeginn in der Visapolitik einleiten. Reisefreiheit für die Menschen in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und für Russland könnte enorme Schubkräfte für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Osteuropas freisetzen.

Leitbilder für eine offene, demokratische und marktwirtschaftliche Gesellschaft, wie sie die EU verkörpert, können sich eben nur durch den ungehinderten, freien Austausch von Jugendlichen, Wissenschaftlern und Unternehmern ausbreiten. Der Vorteil ist dabei auf unserer Seite.

Die Herstellung von Reisefreiheit ist nicht über Nacht realisierbar und nicht ohne strikte Bedingungen denkbar. Ich bin aber bereit, die nötigen Schritte einzuleiten, die dabei auch unseren Sicherheitsbedürfnissen Rechnung tragen.

Diese drei Elemente: Östliche Partnerschaft, gemeinsamer Wirtschaftsraum und Visafreiheit können unser Verhältnis nicht nur zu Osteuropa, sondern auch zu Russland auf eine dauerhaft neue Grundlage stellen. Gerade hier gilt: wir brauchen Kohärenz und Verflechtung, nicht Abschottung und neue Grenzen.

Russland kommt dabei als strategischem Partner der EU eine besondere Bedeutung zu. Deutschland hat sich immer dafür eingesetzt, Russland eng in die Östliche Partnerschaft der EU einzubeziehen. Es geht schließlich um unsere gemeinsame Nachbarschaft.

Auch hier gilt, dass beide Seiten von einer kooperativen Agenda nur gewinnen können. In vielen Bereichen, in denen Russland auch nach eigenem Bekunden Modernisierungsbedarf hat, kann Europa die notwendige Expertise stellen – und exportieren. Das macht Russland und Europa zu natürlichen Modernisierungspartnern.

Im Rahmen der Modernisierungspartnerschaft werde ich Anfang kommender Woche in Moskau eine Initiative zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vorstellen.

Die Regierungspraxis und die innergesellschaftliche Entwicklung gehören zu den schwierigen Themen in unserem Dialog mit Russland – aber solange sie das sind, bleiben sie auch auf der Tagesordnung.

Zu den positiven Entwicklungen im Verhältnis zu Russland gehören die trilateralen Gespräche zwischen Deutschen, Polen und Russen. Hier wird längst offen über unterschiedliche Erinnerungskulturen zum Zweiten Weltkrieg und über sensible sicherheitspolitische Fragen gesprochen. Schrittweise wird so Vertrauen geschaffen und werden gegenseitige Klischees abgebaut.

Die Verbesserung der bilateralen polnisch-russischen Beziehungen hat in unserer Nachbarschaft viele neue Chancen eröffnet.

Polen und Russland treten gemeinsam für einen kleinen Grenzverkehr mit der russischen Exklave Kaliningrad ein, wo immerhin fast eine halbe Million Menschen wohnen. Sie dürfen aber kein entsprechendes Abkommen schließen, weil nach der entsprechenden EU-Verordnung das Grenzgebiet nach 30 Kilometern endet und ausgerechnet die größte Stadt, nämlich Kaliningrad selbst, außerhalb dieser Zone liegt.

Beim Treffen des Weimarer Dreiecks in Paris im Sommer haben der polnische und der russische Außenminister gemeinsam meinen französischen Amtskollegen Bernard Kouchner und mich über dieses Anliegen informiert. Ich habe mich umgehend hinter diese zutiefst europäische Idee gestellt und bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam bald den Menschen in Kaliningrad die Nachbarschaft leichter erlebbar machen können.

Wir haben die Chance, Trennlinien in Europa auch auf dem Balkan zu überwinden. Gerade dort, wo nationalistischer Hass und blutige Kriege in der Vergangenheit tiefe Wunden geschlagen haben, besteht die Hoffnung, dass Europa helfen kann, diese Wunden zu überwinden. Deshalb stehen wir eindeutig zur Beitrittsperspektive für den Westbalkan.

Die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien sind bereits auf der Zielgeraden. Serbien ist in New York bei der Einbringung der Kosovo-Resolution wichtige Schritte auf die EU zugegangen. Das war die Voraussetzung dafür, dass die EU-Außenminister am Montag dieser Woche in Luxemburg den serbischen Beitrittsantrag an die EU Kommission weitergeleitet haben.

Die Signalwirkung dieser Entscheidung geht über den serbischen Beitrittsprozess hinaus. Sie richtet sich an alle Beitrittskandidaten. Die EU hält Wort! Diese Berechenbarkeit und Glaubwürdigkeit ist mir persönlich besonders wichtig. Wir fordern von den Beitrittsbewerbern viel, nicht zuletzt innenpolitisch schwierige Reformen. Aber wenn die Auflagen erfüllt sind, dann muss Europa seine Zusagen auch einhalten!

Dies gilt auch im Umgang mit der Türkei. Die Europäische Union hat vor fünf Jahren einstimmig beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu führen. Sie schuldet es der Türkei, diese Verhandlungen nun auch ehrlich und ergebnisoffen zu führen. Dazu passt es nicht, wenn der Verhandlungsprozess immer wieder zur Geisel einzelner nationaler Interessen genommen wird.

Im Übrigen ist die Türkei ganz unabhängig vom Ausgang der Beitrittsverhandlungen ein Stabilitätsanker in der Region und für Europa ein zentraler Verbündeter in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Und die wirtschaftliche Dynamik der Türkei ist aus europäischer Perspektive beneidenswert. Schon deshalb verbietet es sich, mit der Türkei anders als respektvoll und aufrichtig umzugehen. Eine europäisch orientierte Türkei liegt im ureigenen deutschen Interesse.

Die Beitrittswünsche in unserer Nachbarschaft zeigen, dass die Europäische Union weithin und weiterhin als ein großes Erfolgsmodell wahrgenommen wird. Das spüre ich auch auf meinen Auslandsreisen immer wieder. Aber der Erfolg von gestern ist kein Garant für den Erfolg von morgen. Das haben wir alle im Frühjahr erlebt.

Europa stand an einer Klippe. Eine Krise wie im Frühjahr hat das Zeug, europäische Integrationsanstrengungen um Jahrzehnte zurück zu werfen. Deshalb müssen wir die richtigen Lehren ziehen und die richtigen Weichen stellen für das kommende Jahr. Das Jahr 2011 wird - das sage ich ohne jedes Pathos, aber mit voller Überzeugung - ein Schicksalsjahr für die Europäische Union.

Aus meinen Gesprächen mit den europäischen Amtskollegen Anfang dieser Woche in Luxemburg habe ich die Überzeugung mitgenommen, dass allen der Ernst der Lage auch bewusst ist.

Wir hatten in Luxemburg eine sehr engagierte und teilweise auch emotionale Debatte. Es ging um das Verhältnis von großen und kleinen Mitgliedstaaten, es ging um Souveränität und es ging um Solidarität. Es ging und es geht hier um ganz grundsätzliche europäische Fragestellungen. Und es geht darum, dafür Sorge zu tragen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt. Darin waren wir uns alle einig.

Niemand lebt in der Illusion, alles könne weitergehen wie bisher. Das wäre auch unverantwortlich. Das Defizitverfahren, wie wir es kennen, hat Fehlentwicklungen, wie sie zur Krise führten, nicht verhindern können. Die Kommission hat in der Eurozone zweiundzwanzig Mal ein Defizitverfahren eingeleitet, nie wurden Sanktionen verhängt.

Europa braucht bessere Regeln, damit unsere Währung stark bleibt. Mit einem weichen Stabilitätspakt bleibt ein starker Euro ein frommer Wunsch. Ohne harte Regeln kein harter Euro.

Deshalb brauchen wir Europäer einen Stabilitätspakt mit Autorität und Durchsetzungskraft.

Die Beschlüsse, die der Europäische Rat gestern getroffen hat, ebnen genau dafür den Weg.

Künftig wird es für Länder, die die notwendige Haushaltsdisziplin nicht einhalten können oder wollen, einen Sanktionsmechanismus geben, der der politischen Opportunität weitestgehend entzogen ist.

Die Beschlüsse des Europäischen Rates zur Stärkung der Finanzdisziplin in Europa greifen vieles von dem auf, was wir als Bundesregierung im Frühsommer in unserem 9-Punkte-Plan als deutsche Vorschläge formuliert hatten.

Der Europäische Rat hat noch eine weitere wichtige Weichenstellung zur Wahrung der Finanzmarktstabilität vorgenommen.

Bis Dezember soll ein Mechanismus entwickelt werden, der uns in die Lage versetzt, auf Krisen künftig schnell und wirksam zu reagieren.

Dieser Mechanismus muss die Beteiligung privater Gläubiger beinhalten, wenn die Insolvenz eines Staates droht. Banken sollen in Zukunft nicht Teil des Problems sein, sondern Teil der Lösung. Hilfen an Mitgliedstaaten kommen immer nur als letztes Mittel und unter strikten Auflagen in Frage. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir in eine Transferunion abgleiten. Das wäre nicht im deutschen Interesse, aber es läge auch nicht im gesamteuropäischen Interesse.

Die Mitgliedstaaten waren sich gestern einig, zur rechtlichen Absicherung eines künftigen Krisenmechanismus eine begrenze Vertragsänderung in Angriff zu nehmen. Das gibt dem Mechanismus die Rechtssicherheit, die wir brauchen.

Was in Griechenland passiert ist, darf sich nicht wiederholen. Mittelfristig müssen wir den Konstruktionsfehler beseitigen, dass die vergemeinschaftete Geldpolitik nicht durch eine ausreichende Koordinierung der Wirtschaftspolitik ergänzt wird. Nationale Wirtschafts- und Haushaltspolitiken müssen künftig besser koordiniert werden.

Die Euro-Krise hat Europa bei seinen Bürgern viel Ansehen gekostet, gerade hierzulande. Ansehensverlust ist ein schleichendes Gift für die EU. Wir müssen dem entgegenwirken. Wir – und damit meine ich auch Sie, die kulturellen Mittler und Multiplikatoren – müssen immer wieder deutlich machen, was gerade Deutschland an Europa hat.

Die europäische Integration ist ein Gewinn für alle Europäer. Aber für keine Nation war und ist sie ein größerer Glücksfall als für uns Deutsche. Wir verdanken der europäischen Integration 65 Jahre Frieden und wir verdanken ihr 20 Jahre Einheit in Freiheit. Die europäische Einigung war und ist die Antwort auf die „deutsche Frage“. Wenn Europa uns nicht mehr gebracht hätte als diese Bilanz, es hätte sich schon gelohnt!

Wir erleben aber auch einen historisch beispiellosen Wohlstand, für den der Binnenmarkt noch immer das entscheidende Fundament ist. Allein im August dieses Jahres haben wir Produkte im Wert von fast 44 Milliarden Euro in die EU verkauft. In die EU gehen mehr als drei Fünftel unseres gesamten Exports. Noch immer exportieren wir mehr nach Österreich als nach China. Noch immer verkaufen wir mehr nach Frankreich als in die Vereinigten Staaten.

Wir verdanken Europa sehr viel mehr, als uns im Alltag bewusst sein mag. Ich kann deshalb nur davor warnen, im Angesicht der Krise den europäischen Gedanken in Frage zu stellen. Rückfall in nationale Egoismen ist ein Irrweg.

Wer auf Abschottung und Intoleranz setzt, führt Europa in den Abgrund. Wer Europa den Weg in die Zukunft weisen will, setzt auf Weltoffenheit und Toleranz.

Die Zukunft Europas entscheidet sich nicht vorrangig an der Politik gegenüber den Nachbarstaaten der EU. Sie entscheidet sich auch nicht nur an den Finanzmärkten.

Wenn wir so weiter machen wie bisher, dünnt unsere Gesellschaft aus. Europas Bevölkerungen schrumpfen. Das ist die Realität der demographischen Entwicklung in Europa und auch in unserem Land, für die wir Lösungen finden müssen.

Zur Lösung gehört eine Politik, die konsequent auf Kinder setzt, auf Krippen und Kindergärten, auf gute Schulen, auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zur Lösung gehört aber auch eine realistische, vorausschauende Einwanderungspolitik.

Es ist selbstverständlich, wenn wir ganz genau hinsehen, wen wir in Zukunft dauerhaft aufnehmen wollen. Länder wie Kanada haben interessante Beispiele für intelligente Zuwanderungssysteme geliefert. Wir brauchen auch in Europa qualifizierte Frauen und Männer und müssen dafür jedes Potenzial nutzen können. Unser Wohlstand wird auch von Menschen erarbeitet, die nicht schon seit Generationen bei uns leben.

Es gibt Muslime, die sind gute Ärzte, und es gibt Christen, die sind schlechte Ärzte. Ob jemand ein guter Arzt ist oder ein schlechter, hat nichts damit zu tun, zu welchem Gott er betet.

Migration innerhalb Europas und nach Europa gab es immer. Wanderungsbewegungen haben Europa geprägt. Auch heute gibt es gelungene und weniger gelungene Beispiel für Integration. Immer kommt es auf beide Seiten an.

Den Besten stehen viele Türen offen. Sie schauen genau hin, wohin sie gehen. Sie schauen genau hin, in welchem Land sie sich vorstellen können, eine Familie zu gründen und zu bleiben. Wenn wir wollen, dass Sie nach Deutschland kommen, müssen wir beweisen, dass sie willkommen sind.

In den letzten Wochen wurde viel debattiert, wie unsere Gesellschaft mit Migranten umgeht. In der Debatte habe ich viele kluge Gedanken gehört, aber auch viel dummes Gerede.

Eine Aufteilung in gute Migranten und schlechte Migranten verbitte ich mir. Menschenwürde und Menschenrechte haben alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe oder Religion.

Lange Zeit haben eingefahrene Begriffe die offene Debatte über den Umgang mit den Folgen der Migration verhindert. Das Wort „Gastarbeiter“ gehört dazu. Ein Gast bleibt einige Zeit und geht dann wieder nach Hause. Aber die Jungen und Mädchen, die in den 60er, 70er, 80er Jahren und danach in Deutschland geboren wurden, die hatten keinen Ort, an den sie nach Hause hätten gehen können. Sie waren schon zu Hause. Ihr Zuhause ist und bleibt Deutschland. Auch das ist eine Realität in unserem Land.

Es ist nicht allein Sache der Migranten, ob sie sich in ihrem Zuhause Deutschland auch Zuhause fühlen. Ob sie sich angenommen fühlen als Nachbarn, die aus der Fremde kamen, oder ausgegrenzt als fremde Nachbarn.

Wer bei Integration ausschließlich die Migranten in der Pflicht sieht, verkennt, dass unser Land sehr lange gebraucht hat, um Migranten als selbstverständlichen Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen. Eine Trennung in „wir hier“ und „die dort“ hilft niemandem weiter.

Integration wird erst dann erfolgreich sein, wenn wir uns alle als Teil einer gemeinsamen Gesellschaft, als Teil unserer Gesellschaft verstehen.

Den Weg zu einer gemeinsamen Gesellschaft können nur alle gemeinsam beschreiten, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund, Migranten mit oder ohne deutschen Pass.

Die Erfahrung lehrt uns, Integration kann man nicht einfach anordnen. Integration braucht Zeit.

Es gibt aber auch Probleme mit Zuwanderern und Zugewanderten. Das gilt für einige Vorstädte von Paris und London. Das gilt für ganze Bezirke von Hamburg, München oder Berlin. Diese Problemen zu verschweigen, anstatt sich ihnen zu stellen, heißt Öl ins Feuer zu gießen. Das Thema Migration ist viel zu ernst für Wunschträume.

Dass ein Staat religiös neutral ist, heißt nicht, dass ihm egal sein darf, wenn unter dem Deckmantel der Religion Hass und Gewalt gepredigt werden.

Wer erst dann glücklich ist, wenn jede Frau eine Burka trägt, ist bei uns falsch und wird nie in unserer Gesellschaft ankommen.

Wer aber bei dem Wort „Migrant“ zuerst an Ehrenmorde und Zwangsehen denkt, der hat nichts verstanden und beleidigt Millionen von Menschen, die Teil unserer Gesellschaft sind.

Ich sage es ganz klar. Es ist die Pflicht unserer gesamten Gesellschaft, Migranten die Hand zu reichen, den alten und den neuen. Es ist die Pflicht unserer gesamten Gesellschaft, Bildung für alle zu ermöglichen. Es darf nicht sein, dass man weniger Chancen hat, nur weil die Eltern selbst nicht zur Schule gegangen sind und kaum deutsch sprechen.

Es ist aber auch Pflicht der Migranten, die Hand zu ergreifen und sich um die eigene Integration zu bemühen. Wer sich zurück lehnt und nichts tut und zugleich verlangt, der Staat müsse all seine Probleme lösen, der braucht sich nicht wundern, wenn er seine Chancen verpasst. Wer sich der Integration beharrlich verweigert, ist selbst verantwortlich für die Nachteile, die ihm dadurch entstehen.

So wie wir uns als Gesellschaft für die Migranten entscheiden müssen, müssen sich auch die Migranten für unsere Gesellschaft entscheiden. Genauso wie wir entschieden sagen müssen: „Wir wollen Euch“, müssen die Migranten sagen: „Wir wollen Teil der deutschen Gesellschaft sein“.

Bei aller gebotenen Toleranz werden wir nie die Werte verleugnen, auf die unsere Gesellschaft gebaut sind, und das sind die Grundrechte.

Man ist schnell dabei, abwertend von Symbolpolitik zu sprechen. Oft machen gerade Symbole den Opfern Mut. Für eine Frau, die nach Anatolien zwangsverheiratet werden soll, macht es sehr wohl einen Unterschied, ob man das Nötigung nennt oder Zwangsheirat.

In einer Gesellschaft wird nur der ankommen, der die Sprache spricht. Sprache ist Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Der türkische Präsident Gül und Ministerpräsident Erdogan haben hierzu jüngst das richtige gesagt. Dies heißt aber nicht, dass irgend jemand seine Herkunft verleugnen müsste.

Niemand verlangt eine europäische Einheitskultur. Europa lebt von seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Es hat gelernt, mit Unterschieden nicht nur zu leben, sondern kreativ und produktiv mit ihnen umzugehen. Es ist gut damit gefahren, auf Kooperation zu setzen statt auf Konfrontation. Gemeinsam auch für jeden einzelnen mehr zu erreichen – das ist das Modell Europa. Dafür wird Europa in der Welt geachtet. Das wird für die Gestaltung europäischer Nachbarschaftsbeziehungen im Innern wie nach außen auch in Zukunft der Maßstab bleiben.

Ich danke Ihnen!

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