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Außenminister Steinmeier in Moskau: „Brauchen Russland zur Konfliktbewältigung“

23.03.2016 - Interview


Außenminister Steinmeier äußerte sich gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax im Vorfeld seiner Gespräche in Moskau.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier äußerte sich am Mittwoch (23.03.) gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax im Vorfeld seiner Gespräche in Moskau. Im Fokus des Interviews stehen die Konflikte in Syrien und der Ukraine sowie die deutsch-russischen Beziehungen.

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Herr Steinmeier, Russland hat sich entschieden, einen Großteil seiner Luftstreitkräfte aus Syrien abzuziehen. Wie bewerten Sie diesen Schritt des Kreml? Wie sieht die Bundesregierung die Idee einer Föderalisierung Syriens, die in jüngster Zeit aktiv diskutiert worden ist? Verlangt die Bundesregierung einen sofortigen Rücktritt des syrischen Präsidenten Assad oder wäre sie auch damit einverstanden, dass Assad für einen längeren Übergangszeitraum an der Macht bleibt? Es gibt ja Berichte, dass die Vereinigten Staaten dazu tendieren, Letzteres als Kompromiss in Erwägung zu ziehen...

Der russische Teilabzug aus Syrien kann den Friedensverhandlungen in Genf neuen Rückenwind geben. Ich hoffe, dass Damaskus diese Chance nutzt, in Genf ernsthaft über einen friedlichen politischen Übergangsprozess zu verhandeln, der die Staatlichkeit Syriens und die Chance auf ein friedliches Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen bewahrt.

Über die politische Zukunft Syriens müssen sich die Syrer am Verhandlungstisch verständigen. Wie auch immer eine zukünftige Führung aussehen mag: Frieden und Stabilität wird es nur geben, wenn sie im ganzen Land breite Akzeptanz findet. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass nach 250.000 Toten und 12 Millionen Flüchtlingen ausgerechnet Assad derjenige ist, der die notwendige Akzeptanz in allen Bevölkerungsgruppen findet.


Betrachten Sie Russlands Entscheidung als positiv hinsichtlich der Rückführung von Flüchtlingen nach Syrien? Haben Sie vor, die Flüchtlingskrise während Ihres Besuchs in Moskau zu thematisieren? Besteht die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit mit Russland auf diesem Gebiet?


Trotz wichtiger Fortschritte beim Waffenstillstand: So weit sind wir noch nicht. Denn noch immer sind hunderttausende Menschen innerhalb Syriens von Nahrungsmittel- und Medikamentenlieferungen abgeschnitten. Wenn es gelingt, den Waffenstillstand zu festigen, die Versorgung der Menschen in ganz Syrien zu ermöglichen und Fortschritte in den Friedensverhandlungen zu erzielen, dann könnte das tatsächlich zu einer Eindämmung der Fluchtbewegungen führen. Diese Ziele werden wir nur gemeinsam erreichen. Russlands Einfluss auf Assads Regime spielt dabei eine sehr wichtige Rolle.


Glauben Sie, dass die positive Erfahrung der Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen in Bezug auf die Beilegung des Konflikts in Syrien einen positiven Einfluss auf die Aussichten für eine Lösung der Krise in der Ostukraine haben könnte?


Wir brauchen einander – nicht zuletzt bei der Bewältigung der großen Konflikte in unserer Nachbarschaft. Das galt für Iran, das gilt für Syrien – und das gilt natürlich auch für die Ukraine.

Mit der dortigen Lage und mit den Ergebnissen des letzten Normandietreffens zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine können wir allerdings nicht zufrieden sein. Die Minsker Vereinbarungen geben einen klaren Fahrplan für eine politische Lösung des Konflikts vor. Aber wir sind hier noch längst nicht so weit vorangekommen, wie es zu hoffen und zu wünschen wäre. Wir brauchen im Sicherheitsbereich und bei der Einhaltung des Waffenstillstands jetzt rasche Fortschritte. Und dasselbe gilt für den politischen Prozess unter Einschluss der Verfassungsreform.


Welche Lösung sehen Sie in der Frage der Lokalwahlen in der Ukraine angesichts der Tatsache, dass Kiew die Verfassungsreform wahrscheinlich nicht umsetzen wird, die den Status der „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ endgültig festlegen würde? Wird Deutschland als Partei des Normandie-Formats bereit sein, die Sonderstellung in der Verfassung zu gewährleisten und in dieser Hinsicht Druck auf Kiew auszuüben?


Bei meinem letzten Besuch in Kiew gemeinsam mit dem französischen Außenminister Jean-Marc Ayrault ist klar geworden, dass eine Stabilisierung der Sicherheitslage in der Ostukraine ein sehr wichtiges Element auch für Fortschritte im politischen Prozess ist, einschließlich der Arbeit am Lokalwahlgesetz. Am Ende gehören Sicherheit und politischer Prozess zusammen. Wir müssen dringend in beiden Bereichen vorankommen. Die Zeit läuft uns davon. Die Lokalwahlen in der Ostukraine dürfen nicht bis in alle Ewigkeiten hinausgeschoben werden. Sie sind eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass in der Ostukraine endlich Frieden einkehrt und demokratisch gewählte, von der Bevölkerung akzeptierte Repräsentanten ihre Arbeit aufnehmen können.


Unterstützt die Bundesregierung den Plan Kiews, ähnlich der sogenannten Magnitski-Liste eine Sanktionsliste mit Namen russischer Funktionsträger zu erstellen, die in den Prozess gegen Nadija Sawtschenko involviert sind? Präsident Poroschenko hat gesagt, dass die Ukraine sich zu diesem Thema mit Brüssel und Washington berät...


Wir verfolgen die Entwicklung dieses Falles sehr genau und sind nicht zuletzt besorgt über Frau Sawtschenkos Gesundheitszustand. Ich hoffe darauf, dass alle Beteiligten sich in diesem Fall rasch auf eine humanitäre Lösung einigen.


Die EU hat fünf Leitprinzipien für die zukünftigen Beziehungen mit Russland beschlossen. Bedeutet dies, dass die Europäische Union ihr Konzept der Beziehungen zu Russland geändert hat und eine Rückkehr zu einer Zusammenarbeit, wie sie vor der Ukraine-Krise existierte, nicht mehr möglich ist? Unterstützen Sie den Vorschlag des polnischen Außenministers Waszczykowski, den russischen Außenminister Lawrow nach Brüssel einzuladen, um über die Beziehungen zwischen Russland und der EU zu sprechen?


Russland ist mit Abstand der größte Nachbar der EU. Eine gut funktionierende Nachbarschaft ist in beiderseitigem Interesse. Gerade wir Deutschen haben nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die Verantwortung, immer wieder aufs Neue Gesprächskanäle zu schaffen und Lösungen für Konflikte zu finden. Das tun wir auf vielen Ebenen und in zahlreichen Foren: Ich selbst stehe in engem und regelmäßigem Kontakt mit meinem Amtskollegen Sergej Lawrow.

Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass zwischen der EU und Russland, auch zwischen Deutschland und Russland, derzeit in einigen wichtigen Fragen Differenzen bestehen, die wir gemeinsam ausräumen müssen. Da sind die Regierungen gefragt, aber auch die Zivilgesellschaft kann eine wichtige Rolle spielen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die millionenfachen Kontakte zwischen Deutschland und Russland in Gesellschaft und Kultur, Wirtschaft und Politik weiter pflegen: Zum Beispiel durch das deutsch-russische Jahr des Jugendaustauschs 2016/17, für das mein Amtskollege Sergej Lawrow und ich die Schirmherrschaft übernehmen werden. Oder durch ein Hochschulabkommen zwischen der Assoziation führender Hochschulen Russlands und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. So stellen wir sicher, dass auch zukünftige Generationen diese Beziehungen weiter pflegen und vielleicht neue Wege zueinander finden.


Italien, Ungarn, Zypern und Griechenland sind gegen eine automatische Verlängerung der EU-Sanktionen gegen Russland. Der italienische Außenminister Gentiloni hat kürzlich gesagt, dass die Bewertung der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zur Lösung der Ukrainekrise seitens der deutschen und französischen Regierung bei der Entscheidung über eine Verlängerung der Sanktionen ausschlaggebend sein wird. Wie lautet Ihre Prognose hierzu? Besteht die Möglichkeit, dass im Juni über die Lockerung oder eine teilweise oder vollständige Aufhebung der Sanktionen entschieden wird? Wenn ja, zu welchen Bedingungen?


Je weiter wir bei der Implementierung der Minsker Vereinbarungen kommen, desto eher können wir über Sanktionserleichterungen reden. Deswegen sollten wir unsere Anstrengungen jetzt darauf richten, Minsk möglichst schnell umzusetzen. Ganz besonders wichtig für die Menschen ist eine umgehende und dauerhafte Verbesserung der Sicherheitslage.


Wie steht die Bundesregierung derzeit zum Projekt Nord Stream 2? Ist sie in der Lage, dem Projekt innerhalb der Europäischen Kommission politische Unterstützung zu verschaffen? Wie würden Sie generell die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland beschreiben?


Europa ist auf eine sichere, diversifizierte und kostengünstige Gasversorgung angewiesen. Russland war für uns immer ein verlässlicher Energiepartner – auch in schwierigen Zeiten. Das Projekt North Stream 2 wird derzeit zwischen den beteiligten Unternehmen und der EU-Kommission intensiv diskutiert. Und natürlich beteiligen wir uns an dieser Diskussion, bei der es viele schwierige rechtliche, aber auch politische Fragen zu lösen gilt.

Was unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland angeht, so sind diese immer noch sehr eng. Sie leiden natürlich unter den Auswirkungen der Sanktionen, aber mindestens ebenso unter den Auswirkungen der schweren Rezession, in der die russische Wirtschaft steckt. Ich bin froh darüber, dass die meisten deutschen Unternehmen trotz dieses schwierigen Umfelds an ihrem Russlandengagement festhalten. Darin drückt sich die Erwartung aus, dass der Austausch zwischen uns wieder an Dynamik gewinnt. Und daran sollten wir arbeiten.


Sie selbst haben vor einem Jahr in Wolgograd die Wiedereinrichtung der Gesprächskanäle und einer Hotline zwischen Russland und der NATO befürwortet. Bereitet sich die NATO inzwischen darauf vor, das Format des NATO-Russland-Rats wieder aufleben zu lassen? Wann könnte ein Treffen in diesem Format stattfinden und welche Themen stünden dabei auf der Agenda? Hat Deutschland den Plan verworfen, auf seinem Hoheitsgebiet verbesserte amerikanische Nuklearwaffen zu stationieren? Ist die Bundesregierung nicht besorgt wegen der extrem negativen Reaktion Moskaus darauf? Moskau hat bereits davor gewarnt, und die russische Region Kaliningrad ist nicht weit von Deutschland entfernt...


Als Reaktion auf die Annexion der Krim durch Russland wurde die praktische NATO-Russland-Kooperation suspendiert, aber die politischen Gesprächskanäle sind offen geblieben – zum Beispiel auch zwischen Außenminister Lawrow und NATO-Generalsekretär Stoltenberg. Ich begrüße, dass bald ein erneutes Treffen auf Botschafterebene im NATO-Russland-Rat stattfinden könnte. Nichts ist schlimmer als Sprachlosigkeit – das gilt ganz besonders bei der Sicherheitspolitik.

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