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Europa verteidigen, indem wir es besser machen

06.07.2016 - Interview

Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Situation in Europa nach dem britischen EU-Referendum. Erschienen ab dem 05.07.2016 in führenden europäischen Tageszeitungen, darunter El País, Le Monde, Rzeczpospolita.

Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Situation in Europa nach dem britischen EU-Referendum. Erschienen ab dem 05.07.2016 in führenden europäischen Tageszeitungen, darunter El País, Le Monde, Rzeczpospolita.

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Wer die heiße Phase der Debatten mitverfolgt hat, bekam ein Gefühl dafür, dass das Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union kein gutes Ende nehmen könnte. Was ist da nicht alles über Europa gesagt und geschrieben … und von so vielen auch geglaubt worden. Und dennoch sitzt auch bei mir der Schock noch immer tief. Das Votum der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union hat überall in Europa Bedauern, Verunsicherung und Enttäuschung hervorgerufen. Es ist ein tiefer, ja ein historischer Einschnitt.

Dennoch: Wir dürfen weder in Schockstarre noch in hektischen Aktionismus verfallen. Vielmehr müssen wir alle gemeinsam für die Europäische Union jetzt die richtigen Schlüsse ziehen.

Zunächst eine ehrliche Bestandsaufnahme - Bei vielen Bürgern Europas steht die Europäische Union in diesen Zeiten nicht hoch im Kurs. Viele Menschen sind enttäuscht, und einige wenden sich auch ab, weil sie meinen, die Europäische Union habe ihre zentralen Versprechen von Wohlstand, Demokratie und Frieden nicht oder bestenfalls teilweise erfüllt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat tiefe Wunden geschlagen, die noch lange nicht verheilt sind. Der Zustrom Hunderttausender Flüchtlinge und Migranten nach Europa hat mehr als nur Meinungsverschiedenheiten offengelegt. Vielen erscheinen europäische Entscheidungen weit entfernt von ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Lebenswelten. Sogar Frieden und Sicherheit sind in Europa brüchiger geworden – man denke nur an den Konflikt in der Ostukraine und die fürchterlichen Terroranschläge von Paris und Brüssel.

Dabei läuft auch vieles gut in Europa. Das dürfen wir bei aller Selbstkritik nicht aus den Augen verlieren: Wir haben die schlimmste und gefährlichste Phase der Wirtschafts- und Finanzkrise überstanden – die Eurozone hat zusammengehalten und ist sogar gewachsen. Europa kann die Welt sicherer und friedlicher machen, wie mit dem von der europäischen Außenpolitik verhandelten Abkommen über das iranische Atomprogramm. Europa exportiert Stabilität und Sicherheit, zum Beispiel auf den Westlichen Balkan, wo der Glaube an Europa und der Wunsch nach Annäherung ungebrochen ist. Wir haben international gezeigt, was die EU zu leisten vermag, wenn sie auf der Weltbühne mit einer Stimme spricht. Und selbst in der Migrationskrise haben wir – selbst wenn es zu lange gedauert hat – wichtige Fortschritte gemacht.

Trotzdem hat die Europäische Union für viele gegenwärtig an Anziehungskraft verloren. Das darf uns nicht egal sein. Wir blicken zurück auf eine noch nie dagewesene Periode von 70 Jahren Frieden und Stabilität. Vor mehr als 25 Jahren haben wir die Teilung unseres Kontinents überwunden. Der europäische Einigungsprozess ist eine Erfolgsgeschichte, und sucht in der Geschichte seinesgleichen. Sein Kern, die Einigung auf einen politischen Rahmen, der die Mitgliedstaaten zur Regelung ihrer Beziehungen und Konflikte in das Brüsseler Ratsgebäude und eben nicht zum Kampf auf das Schlachtfeld führt, hat nichts an seinem Nutzen und seiner Bedeutung eingebüßt. Wir dürfen das nicht aufs Spiel setzen. Wir schulden es den Generationen, die nach uns kommen, das europäische Friedensprojekt intakt zu übergeben.

Viele kritisieren Europa aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus – und mit einem Gefühl von Kontrollverlust. Auch wenn das in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint, und in Zeiten einer Globalisierung vieler Lebensbereiche verständlich ist: Angst ist kein guter Ratgeber. Und ein Rückzug ins nationale Schneckenhaus auch kein dauerhafter Schutz vor den Risiken und Gefahren einer als bedrohlich wahrgenommenen Welt.

Was also tun? - Wir müssen den Menschen zeigen, dass die Europäische Union nicht die Ursache dieses Gefühls ist, sondern im Gegenteil das beste Instrument, das wir zur Hand haben, um die Welt um uns herum, um die Globalisierung in unserem europäischen Interesse aktiv zu gestalten. Wenn wir in Europa als Team spielen, uns eng abstimmen und dynamisch agieren, können wir Konflikte meistern und viele Hindernisse überwinden. Hingegen kann sich kein Mitgliedstaat, auch nicht Deutschland oder Frankreich, und übrigens auch das Vereinigte Königreich nicht, international so erfolgreich behaupten wie wir dies als schlagkräftige und solidarische Gemeinschaft gemeinsam können.

Heute gilt: Wer Europa abschaffen will, löst nicht seine Probleme, sondern verschärft sie sogar. Die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, die Großbritannien gerade erlebt, zeigen das. Und sie zeigen auch, dass die, die immer laut „Raus!“ oder „Nieder mit der EU!“ rufen, eben keine Antwort auf die Frage haben, wie es nach einem Austritt oder gar nach der Abschaffung der EU weitergehen soll. Das ist nicht nur töricht und verantwortungslos, es ist auch ein Spiel mit dem Feuer. Francois Mitterand hat uns alle am Ende seines an politischen Erfahrungen, an Erlebnissen von Krieg und Leid so reichen Lebens daran erinnert: ‚Le nationalisme, c’est la guerre!‘ [„Nationalismus bedeutet Krieg!“].

Diejenigen, die sich destruktiv verhalten und die Sehnsüchte nach vermeintlicher Geborgenheit im Nationalen bedienen, müssen wir enttarnen und ihnen echte Lösungen entgegensetzen.

Wir setzen uns dafür ein, dass Europa besser wird und mehr auf die Bedürfnisse seiner Bürgerinnen und Bürger hört. Dies ist die Zielrichtung der Vorschläge, die der französische Außenminister, Jean-Marc Ayrault, und ich letzte Woche vorgelegt haben. Wir haben einige konkrete Ideen, und zwar ganz bewusst dort, wo die Menschen zu Recht mehr von uns erwarten: Für eine bessere innere und äußere Sicherheit, für eine engagierte Migrationspolitik und für eine Politik für Wachstum und Beschäftigung. Und wir freuen uns auf hoffentlich viele andere gute und konstruktive Beiträge.

Auf die Bürgerinnen und Bürger zu hören, heißt aber auch, dass wir in Europa in eine neue Arbeitsweise kommen müssen. Eine bessere, eine flexible Europäische Union respektiert unterschiedliche Vorstellungen über den weiteren Weg Europas und lässt verschiedene Geschwindigkeiten der Entwicklung zu, ohne irgendjemanden auszuschließen oder zurückzulassen. Anstatt uns darüber zu streiten, was das Endziel der europäischen Integration sein soll, sollten wir für greifbare Ergebnisse arbeiten, und zwar heute!

Jeder ist eingeladen daran mitzuwirken! – Lassen Sie uns alle gemeinsam Europa verteidigen, indem wir es besser machen.

Voran kommen wir nur gemeinsam. Deshalb ist es so wichtig, dass wir im Kreis der 27 beraten, einander aufmerksam zuhören und dann gemeinsam handeln.

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