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Rede von Bundesaußenminister Steinmeier anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung

10.11.2006 - Rede

Außenminister Steinmeier in seiner Festansprache: „In der europäischen Erfolgsstory von der Einigung unseres Kontinents gehört die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen zu den schönsten Kapiteln.“

-- Es gilt das gesprochene Wort! --

Erinnern Sie sich noch, wie viele Deutsche und Polen sich im Jahr 1986, bei der Gründung des Dachverbandes der Deutsch-Polnischen Gesellschaften, wirklich kannten? In Polen herrschte das Kriegsrecht. Die politische Opposition wurde zum Teil brutal unterdrückt. Die junge Generation musste ihren Tatendrang, ihre Kreativität und ihre Lust auf Leben in privaten Kellerparties ausleben. Es war eine Generation, die sich eingesperrt fühlte, und in der viele junge Frauen sich gerade deshalb die neuesten Modezeitschriften aus New York und Paris für ihre Frisuren und Sommerkleider beschafften. Der Sieg der Solidarnosc-Bewegung war 1986 noch keineswegs sicher.

Daran hatte auch die ungeheure Solidaritätswelle aus Deutschland nichts ändern können. Die Menschen bei uns sammelten Kleider, Medikamente, Lebensmittel. Freiwillige Helfer, oft Mitglieder der deutsch-polnischen Gesellschaften, schafften sie in Lastwagen und ganzen Spendentransporten über die abgeschottete Grenze nach Polen. Die Weitsichtigen erkannten schon damals, was möglich war! Auch der polnische Freiheitsdrang hat wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland schon 1990 ein wiedervereinigtes Land wurde.

Und heute? Heute klingen diese Schilderungen wie Erzählungen aus versunkenen Zeiten. Polen ist Mitglied der Europäischen Union, das Land modernisiert sich im Zeitraffertempo, die Wirtschaft gehört zu den wichtigsten Boomregionen Europas. In Warschau, wo es 1986 ein einziges Hochhaus mit stalinistischer Architektur gab, schießen Wolkenkratzer aus Stahl und Glas wie Spargel aus dem Boden. An den Grenzen zwischen Deutschland und Polen sehen wir lange Schlangen. Auf der polnischen Seite stehen Lastwagen, die Waren aus Polen nach Deutschland bringen. Ein Viertel des polnischen Exports geht in unser Land. Und auf der hiesigen Seite stehen Lkw mit Waren, die in Deutschland hergestellt, abgepackt oder umgeschlagen sind. Der deutsche Maschinenbau hat volle Auftragsbücher, die Arbeitnehmer in dieser Branche schieben Überstunden - unter anderem, weil polnische Unternehmen sich mit diesen Produkten auf Weltniveau bringen.

Aber auch in der Wissenschaft, Kultur und der Zivilgesellschaft sind Deutschland und Polen so eng zusammengewachsen, wie sich das vor 20 Jahren niemand hätte träumen lassen. Wir haben 300 deutsch-polnische Städtepartnerschaften und weitere freundschaftliche Beziehungen zwischen Kommunen, gemeinsame Nationalparks und die Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder, an der ein Drittel der Studierenden aus Polen stammt. Gerade vor zwei Wochen war ich dort und durfte mit einem Festvortrag das akademische Halbjahr eröffnen.

Mit einem Satz: In der europäischen Erfolgsstory von der Einigung unseres Kontinents gehört die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen zu den schönsten Kapiteln. Ich finde, das ist ein sehr guter Grund, den 20. Jahrestag der Deutsch-polnischen Gesellschaften heute an diesem Ort feierlich zu begehen.

Die deutsch-polnischen Gesellschaften haben großen Anteil daran, dass die Aussöhnung zwischen beiden Ländern auch unter schwierigen Bedingungen vorankam - und sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sehr rasch weiterentwickeln konnte. Versöhnung kann nur im Gespräch der Menschen miteinander entstehen. Dieser Dialog entstand seit den Siebziger Jahren - angestoßen von der Ostpolitik Willy Brandts - aus der Energie und Leidenschaft von anfangs nicht sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern auf beiden Seiten.
Damals gründeten sich die ersten deutsch-polnischen Gesellschaften. Die Städtepartnerschaften Bremen-Danzig 1976, Göttingen-Thorn 1978 und Hannover-Posen 1979 galten als Pionierprojekte.

Auf den Dialog der Bürger kommt es bis heute an. Er ist das Herzstück der deutsch-polnischen Beziehungen, wie sich gerade in schwierigen Abschnitten wie in diesem Jahr wieder zeigt. Selbst in Phasen offizieller Sprachschwierigkeiten bilden die Beziehungen der Menschen untereinander ein Band, das niemand mehr trennen kann. Das ist auch das besondere Verdienst Ihrer Arbeit in den deutsch-polnischen Gesellschaften. Ich danke Ihnen für dieses Engagement sehr herzlich.

Wir alle wissen, dass die deutsch-polnischen Beziehungen in diesem Jahr - ich hatte es bereits angedeutet - eine schwierige Phase durchlaufen. Es gab irritierende Äußerungen und Handlungen der polnischen Regierung. Und ich habe aufmerksam registriert, was der ehemalige polnische Präsident Alexander Kwasniewski - ein Mann, der stets für enge deutsch-polnische Beziehungen stand und steht - am Dienstag im „Tagesspiegel“ formuliert hat. Er hat gesagt: „Die Deutschen nehmen uns noch nicht für voll.“ Ich will hier ausdrücklich für mich persönlich und für die gesamte Bundesregierung sagen: Dieser Eindruck ist falsch.

Wir wünschen uns vielmehr, dass die Polen ihre strategische Position in Europa, die ich keine Sekunde unterschätze, aktiv annehmen und einbringen in die Diskussionen über die Zukunft der Europäischen Union. Polen ist nicht irgendeines von 25 Ländern in der Europäischen Union. Es ist das geografisch und politisch bedeutendste Land unter den mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten. Wir brauchen eine starke polnische Stimme in Europa. Für Polen ist die Integration in die EU und sein Selbstverständnis als konstruktiver Partner die strategische Zukunftsfrage - im wohlverstandenen Eigeninteresse. Und dieses Interesse trifft sich mit dem aller Europäer.

Ich habe diesen Zusammenhang schon vor zwei Wochen bei einer Rede an der Viadrina-Universität in eine Formel gebracht, die ich hier wiederholen möchte: Polen braucht Europa - und Europa braucht Polen.

Das gilt nicht nur für die wichtige Frage, wie wir zumindest die politische Substanz der EU-Verfassung retten können. Die Verfassung würde die Europäische Union demokratischer, transparenter und effizienter machen. Kompetenzen werden klarer abgegrenzt, auch zugunsten der nationalen Parlamente, worauf Polen großen Wert legt. Wenn Polen sich an dieser Stelle einen Ruck gibt und aktiv an der Zukunft der Verfassung mitarbeitet, wird dies - da bin ich sicher - in ganz Europa als Signal verstanden, dass die polnische Regierung nicht nur Mitglied der EU sein will, sondern auch in den Institutionen der Europäischen Union als wichtiger und konstruktiver Partner - mit Kopf und Herz - angekommen ist.

Aber Polen und Deutschland haben der EU auch darüber hinaus gemeinsam viel zu geben. Nehmen wir nur die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn, nicht nur, aber auch Russland. Ich appelliere an Polen: Steht dabei nicht am Wegesrand, sondern mischt aktiv mit bei den Debatten. Nur gemeinsam wird Europa den wichtigen Nachbarn Russland auf einem europäischen Weg halten. Das ist europäisches Interesse und Ausdruck außenpolitischer Vernunft: Kaum einer der aktuellen Konflikte von Iran bis Nahost, von Nordkorea bis Kosovo, wird ohne die konstruktive Einbeziehung Russlands zu lösen sein. Eine solche Rolle Russlands liegt im deutschen wie im polnischen Interesse.
Und ich nenne weitere Beispiele, an denen deutlich wird, warum es sich lohnt, nicht nur über das Trennende, sondern vor allem über das Gemeinsame zu reden. Ein enges Verhältnis zur Ukraine liegt im Interesse sowohl von Polen als auch Deutschen. Warum stärken wir also nicht gemeinsam die demokratischen Kräfte in der Ukraine - von der Politik über die Wirtschaft und Wissenschaft bis zur Kultur?
Ich kann noch viele andere Bereiche nennen. Warum arbeiten wir nicht gemeinsam daran, ein zukunftsfestes System für die EU-Agrarsubventionen zu schaffen? Und warum setzen wir uns nicht zusammen und erarbeiten Perspektiven für eine Annäherung der Steuersätze und ökologische Standards in Europa?

Ich unterstreiche: Ich wünsche mir, dass unsere polnischen Nachbarn kraftvoll und konstruktiv mit an der Zukunft unseres Kontinents arbeiten, dass sie den europäischen Karren mit ziehen! Der Platz am Ende des Zuges darf nicht der Platz Polens sein! Auch in einer Festrede bin ich für klare Worte. Die Verflechtung zwischen Deutschland und Polen ist in den vergangenen 20 Jahren mit rasender Geschwindigkeit vorangekommen, das stimmt. Aber ich habe auch den Eindruck, dass zuletzt in den deutsch-polnischen Beziehungen manches vom Schwung der ersten Jahre nach 1990 wieder verloren gegangen ist.

Ich halte es deshalb für dringlich, dass wir auch auf den vermeintlich kleinen Feldern unserer Beziehungen, in denen die deutsch-polnischen Gesellschaften wertvolle Arbeit leisten, neue Impulse setzen und uns verabreden, noch einmal neu durchzustarten. Vor zwei Wochen in meiner Rede an der Viadrina-Universität habe ich gefragt, warum wir nicht Nutzen aus einem weiteren Bereich der deutsch-französischen Erfahrung ziehen und mittelfristig ein gemeinsames deutsch-polnisches Geschichtsbuch erarbeiten, das uns hilft, uns gegenseitig besser zu verstehen. Manche haben mich im Vorfeld gewarnt, dafür sei die Zeit noch nicht reif.
Ich will Ihnen kurz erläutern, warum ich ein Verfechter dieses Vorhabens bin. Damit könnten wir Deutsche deutlich machen, dass wir offen sind für polnische Sichtweisen auf die Geschichte. Ich bin sicher, dass viele Deutsche es als Bereicherung empfinden, diese Sichtweisen besser kennen zu lernen und mehr über die polnische Perspektive auf die Geschichte zu erfahren. Dieses Projekt kann viele Mitstreiter gebrauchen, gerade auch aus diesem Kreis. Das Ergebnis am Ende ist sicher wichtig, aber mindestens genauso wichtig ist der gemeinsame Lernprozess bis dahin!

Bei der Verständigung zwischen unseren beiden Völkern müssen wir strategisch auf die Jugend und die nächste Generation setzen. Deshalb braucht das deutsch-polnische Jugendwerk unsere verstärkte Unterstützung. Seit seiner Gründung im Jahr 1993 haben fast 1,5 Millionen Jugendliche aus beiden Ländern an diesen Programmen teilgenommen. Welchen Einfluss das auf die Verständigung zwischen bieden Völkern hat, ist uns allen klar. Ich wünsche mir, dass Deutsche wie Polen nicht nachlassen, die Arbeit des Jugendwerkes zu fördern und möglichst noch auszubauen.
Und es gibt viele weitere Themenfelder, um die Qualität im Austausch zwischen beiden Ländern zu verbessern. Manche Bundesländer wollen wieder Stellen für Austauschlehrer streichen, weil bislang nicht genügend Lehrer aus Polen nach Deutschland kamen. Wir dürfen bei solchen Entwicklungen nicht tatenlos zusehen.
Und noch ein Punkt ist mir aufgefallen: Wir haben bis heute kein deutsch-polnisches Gymnasium in Berlin. Warum eigentlich?

Bei meinen Reisen als Außenminister erlebe ich immer wieder, mit wie viel Sympathie, Hochachtung und Bewunderung andere Teile der Welt auf Europa schauen. Die Einigung unseres Kontinents und die Überwindung von Völkerhass wird allenthalben als Vorbild gesehen. Ob in Lateinamerika, am Persischen Golf oder in Zentralasien - überall wird Europa beinahe als politische Einheit betrachtet. Weit stärker, als wir uns dies in unseren immer noch national verfassten Gesellschaften bewusst machen. Ich will damit sagen: Wir Europäer sind noch immer mitten auf dem Weg, unsere nationalen Identitäten um eine europäische Identität zu erweitern. Es braucht viel Zeit, die Ängste und Traumata der nationalstaatlichen Kriege in Europa zu überwinden. Das gelingt nur durch Dialog, Verständigung und die wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven.

In diesem Sinne würdigen wir heute die wichtige Arbeit der deutsch-polnischen Gesellschaften. Sie alle organisieren ganz wesentlich den wertvollen Dialog der Bürger zwischen diesen beiden Ländern, zwei der großen und wichtigen Mitgliedstaaten der EU. Dieser Dialog ist eine wichtige Komponente des großen Dialogs der Bürger Europas, die gemeinsam ihre Geschicke in die Hand nehmen. Ihre Arbeit ist ein Baustein bei unserem Vorhaben, das wir unter das Motto gestellt haben: Europa gelingt gemeinsam.

Lassen Sie uns auf diesem Weg gemeinsam weiter vorangehen!

Ich danke Ihnen.

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