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Rede von Bundesminister Westerwelle zur Eröffnung der Ausstellung „Memorium Nürnberger Prozesse“

22.11.2010 - Rede

-- Es gilt das gesprochene Wort --

Sehr geehrter Herr Minister Lawrow, lieber Sergej,

sehr geehrter Herr Dumas,

sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt Grieve,

sehr geehrter Herr Botschafter Rapp,

sehr geehrter Herr Ferencz,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Maly,

sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann,

sehr geehrte Frau Staatsministerin Merk,

Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt über 65 Jahre zurück. Wir müssen jetzt denjenigen die Fragen stellen, die diese Zeit selbst erlebt haben. Was wir heute versäumen zu fragen, bleibt ungefragt und unbeantwortet.

Ich freue mich deswegen ganz besonders, dass Benjamin Ferencz hier zu uns sprechen wird und ich danke Ihnen dafür, dass Sie dies tun.

Die Nürnberger Prozesse waren die Antwort auf die Perversion des Rechts im nationalsozialistischen Deutschland. Mit dem Ermächtigungsgesetz schafften die Nationalsozialisten die Demokratie ab.

Die Diskriminierung der jüdischen Beamten nannten sie „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“.

Mit den sogenannten „Nürnberger Rassegesetzen“ brach Nazideutschland mit dem fundamentalen Prinzip, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Der Raub jüdischen Vermögens durch die Finanzbehörden geschah auf Grundlage von Gesetzen und von Verordnungen.

Terror und Tyrannei versteckte das Regime hinter der Maske von Recht und Gesetz. Millionenfacher Mord und unendliches Leid waren die Folgen.

Viele fragten sich damals, ob diejenigen, die das Recht derart mit Füßen getreten hatten, selbst Gerechtigkeit verdienten.

Es ist eine große historische Leistung, dass die Alliierten der Versuchung widerstanden, Rache zu üben. Rache wäre der leichteste Weg gewesen. Sie entschieden sich für den schwereren Weg. Sie betraten juristisches und zivilisatorisches Neuland mit dem Versuch, unfassbare Verbrechen zum Gegenstand eines Prozesses zu machen. Sie suchten und fanden Antworten auf schwierige politische, moralische und juristische Fragen.

Wer sollte auf der Richterbank sitzen, Alliierte oder auch deutsche Richter?

Welches Recht war anwendbar? Es stellte sich die Frage nach der individuellen Strafbarkeit von denen, die als Staatsorgan handelten, und die Frage nach den Grenzen des sogenannten strafrechtlichen Rückwirkungsverbots.

Weil man hier in Nürnberg viel wagte, politisch, juristisch und menschlich, konnte sich das Völkerrecht fortentwickeln, konnte man Regeln für zukünftige Fälle festschreiben.

Die Nürnberger Prozesse hatten kein Vorbild, an dem man sich sich hätte orientieren können. Sie wurden selbst Wegweiser für die Entwicklung des Völkerstrafrechts, die noch lange nicht abgeschlossen ist.

In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Und weiter: „das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Mit diesen Worten zogen die Mütter und Väter des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland die Lehre aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. In unserer Verfassungsordnung steht der Mensch im Mittelpunkt. Der Staat hat dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Das gilt in Deutschland, in Europa und als universelles Prinzip. Nur der Schutz der Menschenrechte weltweit kann verhindern, dass unsere Welt aus den Fugen gerät.

Für die Bundesregierung ist das Eintreten für die Menschenrechte in Deutschland und weltweit die Verpflichtung, die sich auch aus unserer Geschichte ergibt.

Kein Urteil kann das Leid der Opfer ungeschehen machen. Kein Richterspruch macht Tote wieder lebendig.

Die Täter vor Gericht zu stellen, ist dennoch wichtig, nicht nur für die unmittelbaren Opfer der Tat. Ein rechtsstaatliches Urteil entfaltet Wirkung weit über den Prozess hinaus.

Die Gründung der Vereinten Nationen war der ambitionierte Versuch, unserer unfriedlichen Welt rechtsstaatliche Strukturen entgegenzusetzen. Wir alle wissen, wie unvollkommen uns das gelingt, aber die Vereinten Nationen können nur so stark sein, wie die Mitgliedsstaaten es zulassen. Deutschland bleibt dem Ziel einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verpflichtet. Das internationale Recht zu stärken, ist Maßstab unseres Handelns in den Vereinten Nationen, auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das ist ein mühsamer Weg, auf dem es nur in kleinen Schritten vorangeht, aber es gibt keinen Grund, sich entmutigen zu lassen.

Die internationale Strafgerichtsbarkeit hat sechs Jahrzehnte nach den Nürnberger Prozessen heute einen festen Platz im Völkerrecht. 114 Staaten akzeptieren inzwischen die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Wir werden beharrlich dafür werben, dass diese Zahl weiter wächst. Wir werden uns dafür einsetzen, den Entscheidungen des Gerichtshofes auch Geltung zu verschaffen. Die deutsche Vergangenheit lehrt uns, wie dünn der Firnis unserer Zivilisation ist. Diese Lehre war und ist uns Verpflichtung. Es ist kein geringer Erfolg, dass beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag heute das Signal ausgeht, dass sich politische Führer für ihre Taten - vor allem für ihre Untaten - verantworten müssen.

In Europa können sich die Bürgerinnen und Bürger Europas direkt an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wenden, wenn der Staat, in dem sie leben, ihre Rechte verletzt. Einen solchen Rechtsschutz auch über Europa hinaus zu verankern ist ein ehrgeiziges, aber lohnendes Ziel, für das es zu streiten lohnt. Die Überwindung des Faustrechts, des Rechts des Stärkeren, ist eine der größten Errungenschaften unserer Zivilisation. Das müssen wir auch international schaffen.

Das Recht des Stärkeren wollen wir überwinden durch die Stärkung des Rechts. Schritt für Schritt, auch in der internationalen Politik.

In der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – und das ist für den einen oder anderen unbequem - gibt es keinen Schlussstrich. Wie sehr die Vergangenheit in unsere Gegenwart hineinragt, zeigt nicht zuletzt die Aufmerksamkeit, die die jüngste Veröffentlichung zur Geschichte des Auswärtigen Amtes gefunden hat.

Es ist wichtig, dass wir die Vergangenheit im Blick behalten. Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann aus ihr für die Zukunft nicht lernen. Geschichte ist keine Holschuld der Jungen, es ist eine Bringschuld der Älteren.

Die Stadt Nürnberg leistet viel für eine Kultur der Erinnerung. Ich begrüße es, Herr Oberbürgermeister, dass sich der Nürnberger Stadtrat um die Aufnahme dieses Sitzungssaals als Welterbe bewirbt.

Erst gestern haben beim NATO-Gipfel in Lissabon die Außenminister Russlands, Frankreichs, der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands mit an einem Tisch gesessen. Das sollten wir alles nicht selbstverständlich nehmen.

Wir begegnen uns nicht als Sieger und Besiegte, auch nicht als Ost und West. Wir sind Partner, und dafür sind wir Ihnen, die Sie diese Länder repräsentieren, unendlich dankbar, denn es war keine Selbstverständlichkeit, dass Sie uns nach dem, was Deutschland in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Welt angetan hat, wieder in die friedliche Völkergemeinschaft mit Respekt aufnehmen würden.

Uns eint heute die Arbeit an gemeinsamer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok.

Unser Ziel ist eine strategische Partnerschaft im Interesse aller.

Wir erleben Europa in einer Zeit, die sich Generationen vor uns vergeblich erträumt haben. Wir leben in einem Europa des Wohlstands und des Friedens. Das zu bewahren, ist unsere gemeinsame Aufgabe.

Auch Europa ist eine Lehre aus unserer Geschichte. Das europäische Kooperationsmodell ist anstrengend, es kostet viel Kraft, die nächtelangen Verhandlungen. Die Folgen von Konfrontation zu beseitigen wäre viel aufwendiger und viel dramatischer. Lassen Sie uns Europa schätzen. Das sage ich hier, an diesem Ort, als Lehre aus der Geschichte, und ich sage es ausdrücklich auch vor dem Hintergrund mancher Diskussionen, die wir derzeit erleben. Wer immer nur fragt, was etwas kostet, vergisst gelegentlich was etwas wert ist.

Freiheit, Recht und Gerechtigkeit entstehen nicht von allein. Sie müssen erkämpft werden.

Das Andenken derer, die für unsere Freiheit ihr Leben gegeben haben, halten wir in Ehren. Ihnen schulden wir, dass wir Krieg und Völkermord nicht nur in Europa verhindern.

Die Nürnberger Prozesse waren ein Anfang. Das römische Statut war eine gute Fortsetzung. Die Einrichtung des Strafgerichtshofs in Den Haag war kein Endpunkt. Für Frieden, für Freiheit und für die Menschenrechte einzutreten, bleibt unsere gemeinsame Aufgabe.

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